Oper „Blühen“ nach Thomas Manns „Die Betrogene“ – Gedanken zu „AnimaL“
Thomas Manns Erzählung „Die Betrogene“ ist Grundlage für die Oper „Blühen“, die 2022/23 uraufgeführt und von Publikum und Kritik gleichermaßen gefeiert wurde. Aufgrund der großen Resonanz erfolgte im Oktober 2025 eine Wiederaufnahme von „Blühen“ im Frankfurter über 100 Jahre altem Bockenheimer Depot. Das Bockenheimer Depot ist heute nicht nur Spielstätte von Oper und Schauspiel Frankfurt, sondern auch von der Dresden Frankfurt Dance Company (früher: The Forsythe Company). Inmitten der Zuschauer zu „Blühen“ sitzt eine Leserin des UniWehrsEL, die die Handlung auf der Bühne nach C. G. Jungs Anima, Animus Theorie interpretieren möchte.
Sehr geehrtes Redaktionsteam des UniWehrsEL,
Die Oper „Blühen“ war bereits einmal im Beitrag im UniWehrsEL. Ich habe die Wiederaufnahme von „Blühen“ am 07.10.2025 besucht und möchte meine Eindrücke mit Ihnen teilen, auch im Hinblick auf das Seminar Anima(l), das sich auch mit dem „anima – animus“ Konzept auseinandersetzt. Diese wesentlichen Begriffe der Analytischen Psychologie Carl Gustav Jungs beschreiben zwei der wichtigsten Archetypen. Sie sind laut Jung im kollektiven Unbewussten angelegt und von individueller Erfahrung unabhängig. Anima und Animus zeigen sich in Stimmungen und Launen, Begeisterung und Verliebtheit, in Träumen und Mythen.
In der Oper „Blühen“ verliebt sich Aurelia in den deutlich jüngeren Englischlehrer Ken ihres Sohnes Edgar. Durch diese Beziehung entsteht ein plötzliches, fast hungriges Verlangen nach Nähe und Zärtlichkeit, das ihr bisher zurückhaltendes Selbstbild überschattet. Das intensive körperliche Begehren nach Ken dominiert ihre Gedanken und lässt ihr Herz schneller schlagen. Die leidenschaftliche Verbindung wirkt für Aurelia wie ein belebender Trank; sie erinnert den Opernkenner, die Opernkennerin an Donizettis Liebestrank, der den schüchternen Nemorino dazu bringt, der reichen Adina seine Liebe zu gestehen (dazu auch unser Beitrag „Geheimnisvolle Elixiere„).
In gewisser Weise setzt der Liebestrank die Dorfbewohner unter Strom, so wie Aurelia von Kens Liebe unter Strom gesetzt wird. Durch die neue Beziehung erwacht in Aurelia ein spielerisches, fast kindliches Vergnügen am Leben, vergleichbar mit dem ausgelassenen Frohsinn, den Sir John Falstaff auslebt in Verdis „Falstaff“ erlebt. Der titelgebende Held hat seine Freude am Essen, am Trunk und der Hoffnung auf ein (sexuelles) Abenteuer mit zwei verheirateten Frauen – ein sinnliches Fest, das seine Triebe ungezügelt ausleben lässt.
Dieses Szenario lässt sich gedanklich auf Aurelia in „Blühen“ übertragen: ihr sexueller Appetit auf den jungen Ken ist ebenso ein ungestümer Hunger, der nach neuer, belebender Nahrung verlangt. Wie Falstaff bereit ist, neue Gaumenfreuden zu entdecken, so ist Aurelia bereit, die Sprache der Liebe in Englisch zu erlernen – ein bewusstes Verlassen des nüchternen ‚Deutschen‘, ihrer Muttersprache, um sich dem Verlangen nach Ken und dem damit verbundenen emotional‑intellektuellen Neuanfang zu öffnen. Aurelia erlebt eine Erweckung der eigenen Sinnesfreuden, die ihr das Gefühl gibt, ihr Glück endlich fassen zu können.
Dieser neu gewonnene Optimismus führt jedoch zu einem Konflikt mit ihrer Tochter Anna, die Aurelias Entscheidung als Verrat an der Familie empfindet.
Im Deutschen Ärzteblatt beschreibt der Psychologische Psychotherapeut Tabatabai (Psychodynamik und Paartherapie) das Prinzip des Animus von C. G. Jung, dessen Gedanken ich auf Aurelia in „Blühen“ anwenden möchte. Animus sei das „Gegenbild von Anima, das männliche Prinzip, die inneren unbewussten Potenziale: Mut, Tapferkeit, Stärke und Kraft der Frau.“ Diese unbewusste männliche Kraft würde nach außen auf einen erfolgreichen, faszinierenden und exotischen Liebhaber übertragen, der sie auf romantische und sexuelle Weise erobern soll, statt ihre eigenen innenwohnenden Kräfte zuzulassen und sich selbst diese Ressourcen anzueignen. Dadurch würde die Anima oder der Animus – ein Teil des inneren männlichen oder weiblichen Ichs – entweder nach außen projiziert oder abgelehnt beziehungsweise verleugnet. Dies beeinflusse die Dynamik der zwischenmenschlichen Beziehung.
So interpretiere ich, dass die unbewusste Schattenseite der Aurelia in „Blühen“ sich darum bemüht, den fehlenden Anteil ihrer Seele durch Ken zu ergänzen. Dieses unbewusste Vorgehen besteht darin, sich ihm als Partnerin anzunähern, weil er die eigenen, verdrängten, abgewerteten, nicht ausgebildeten oder ungeliebten Anteile verkörpert und darstellt. Ihre eigene Unvollkommenheit soll durch Ken ergänzt und abgedeckt werden. Und zugleich fühlt Aurelia, dass ihr bisheriges Selbstbild von Pflicht und Selbstverleugnung von einer tieferen, animalischen Kraft durchdrungen wird, die nach Ausdruck verlangt.
Ein interessanter Aspekt, den das Stück eindrucksvoll beleuchtet, ist das tierische Verhalten, das im Menschen verankert ist. Wie bei vielen Säugetieren löst das sexuelle Begehren nicht nur hormonelle, sondern auch instinktive Reaktionen aus, die das Individuum zu Partnerwahl drängen. Aurelia verkörpert dieses urtümliche Muster: ihr plötzliches Verlangen nach Ken ist weniger ein rationales, als ein instinktiver Drang, der ihr inneres „Raubtier“ weckt, das nach neuer Nahrung – in Form von Leidenschaft und Vitalität – sucht.
Dieses animalische ‚Impuls‑System‘ überschattet ihre bewusste Selbstkontrolle, führt zu intensiveren Sinneswahrnehmungen lässt sie die Grenzen zwischen Mutterrolle und eigenem Lebenselixier verwischen. Die Oper nutzt diese Parallele, um zu zeigen, dass das menschliche Begehren tief in den evolutionären Überlebensstrategien des Menschen verwurzelt ist und sich, sobald es aktiviert wird, kaum noch zügeln lässt – ein Motiv, das Aurelias tragisches Schicksal noch eindringlicher macht.(zur Natur der Begierde ist auch Shakespeares Sommernachtstraum hier im UniWehrsEL ein gutes Beispiel)
Die Wende in Aurelias Leben wird durch die vermeintliche Schwangerschaft und das anschließende Auf-(Blühen) als unheilbarer Tumor offenbart. Dieser Schock, verkündet von Dr. Methesius, zerreißt die zuvor aufgebauten Illusionen. Der Inszenierung von Brigitte Fassbaender gelingt es, diesen inneren Konflikt als berührendes Seelendrama zu präsentieren: Der Vorhang wird zurückgezogen, ein riesiger Tumor erscheint auf der Bühne und symbolisiert das unausweichliche Schicksal, das Aurelias Leben nun bestimmt.
Besonders hervorzuheben ist die großartige Darstellung von Aurelia durch Bianca Andrews. Ihre Tochter Anna, verkörpert von Karolina Bengtsson, liefert einen eindringlichen Gegenpol, während Ken gespielt durch Micheal Porter die Brücke zwischen den beiden Generationen schlägt und Aurelias Wunsch nach Neubeginn verkörpert.
Fazit: Die Aufführung verbindet ein intensives Liebesdrama mit einer existenziellen Konfrontation des Selbst. Durch die Verbindung von Jung’scher Anima-Theorie und der dramatischen Offenbarung des Tumors eröffnet „Blühen“ neue interpretative Räume, die sowohl künstlerisch als auch psychologisch faszinierend sind.
Mit freundlichen Grüßen
Eine sehr interessierte Leserin des UniWehrsEL, die sich besonders für Ihre Beiträge über Opern und die „Schreibwerkstatt“ freut und um einen Kommentar bittet!
Herzlichen Dank für diesen interessanten Beitrag. Das Bockenheimer Depot wäre übrigens auch ein wunderbarer Handlungsort für unsere Schreibwerkstatt „Tatort Frankfurt. Welche Rolle spielt die Magie der Musik?“! Und wie immer großen Dank für die Bilder und besonders das Image von Frau und Mann von Gerd Altmann auf Pixabay. Vielleicht regen diese die LeserInnen und FotografInnen im UniWehrsEL an, selbst einmal durch Frankfurt zu streifen?
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