Nanu, werden Sie vielleicht denken, was soll das? Das ist doch kein Truthahn, sondern ein schwarzer Schwan. Sie haben natürlich recht; die Aufklärung folgt auf dem Fuß.
Was ein Truthahn ist, ist evident. Bei dem viel gebrauchten Begriff Illusion sollten wir uns allerdings sicherheitshalber selbstvergewissern. Bestimmt können wir uns darauf einigen, dass eine Illusion eine Sinnes-Täuschung bedeutet, die auf einer Fehl-Interpretation realer Sinnes-Eindrücke beruht. Mit anderen Worten: Es wird etwas Vorhandenes wahrgenommen – aber nicht als das, was es eigentlich ist.
Nun zurück zum Truthahn und der Metapher der „Truthahn-Illusion“: Wie kam ich eigentlich darauf? Den meisten von uns wird es wohl so gehen. Man hat im Laufe der Zeit viel Interessantes gehört, das aber mangels regelmäßigen Gebrauchs wieder „in der Versenkung“ verschwindet. Und plötzlich stößt man nach langer Zeit wieder darauf und dann „fällt der Groschen“ („Aha-Erlebnis“) und der Vorsatz entsteht, das merke ich mir jetzt. Und warum sollte man als gesprächsbereiter Mensch nicht auch mit anderen darüber reflektieren, so wie hier bei UniWehrsEL?
Mein diesbezügliches Déjà-vu-Erlebnis fand vor kurzem beim Lesen des für mich sehr interessanten Buches „Weltgeschichte to go“ von Alexander von Schönburg statt. Dort ging es in dem Kapitel „Fortschritt“ um die beiden Thesen, ob die Menschheit alle Krisen wie bisher meistern wird oder eine Überraschung bevorsteht, die dort als die „Truthahn-These“ bezeichnet wird.
Diese lautet:
„Der Fortschritt führt direkt in unsere Selbstzerstörung, manche kennen dafür den Begriff «Truthahn-These», die so heißt, weil es in Amerika Sitte ist, an Thanksgiving im Kreis der Familie einen riesigen Truthahn zu verspeisen: Ein Truthahn glaubt, dass er ein wunderbares Leben führt, weil er jeden Tag gefüttert wird und die Erfahrung macht, dass die Menschen nur sein Wohl im Sinn haben. Seine Zuversicht wächst mit der Zahl der freundlichen Fütterungen. Am sichersten fühlt er sich am Tag vor Thanksgiving …“
In seinem Buch „Risiko – Wie man die richtigen Entscheidungen trifft“ schreibt Gerd Gigerenzer zum gleichen Thema:
„Es ist nicht immer leicht zu erkennen, wie ungewiss die Situation ist, in der wir uns befinden, ob die Risiken wirklich bekannt oder weitgehend unvorhersagbar sind. Beginnen wir mit einer Erzählung des Autors Nassim Taleb. Versetzen Sie sich in die Gemütsverfassung eines Truthahns. Am ersten Tag Ihres Lebens kam ein Mann. Sie befürchteten, er wolle Sie töten, aber er war freundlich und gab Ihnen Futter. Am folgenden Tag näherte sich der Mann erneut. Wird er mich wieder füttern?
Nach der Wahrscheinlichkeitstheorie können Sie berechnen, wie groß die Aussicht dafür ist.
Die Laplace-Regel, so benannt, weil der bedeutende Mathematiker Pierre Simon de Laplace sie abgeleitet hat, liefert die Antwort: Wahrscheinlichkeit, dass etwas abermals geschieht, wenn es schon n Male vorher geschehen ist = (n+1)/(n+2) Hier ist n die Zahl der Tage, die der Bauer Sie gefüttert hat.
Das heißt, nach dem ersten Tag beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass der Bauer Sie am nächsten Tag füttern wird, 2/3, nach dem zweiten Tag steigt sie auf 3/4 und so fort, sodass die Gewissheit mit jedem Tag zunimmt. Gleichzeitig wird die Alternative, dass er Sie töten könnte, immer unwahrscheinlicher. Am Tag 100 ist es fast gewiss, dass der Bauer kommt, um Sie zu füttern – das könnten Sie jedenfalls meinen. Was Sie nicht wissen: Dieser Tag ist der Tag vor Thanksgiving. Ausgerechnet an dem Tag, an dem die Wahrscheinlichkeit gefüttert zu werden, größer als je zuvor ist, kommen Sie unters Beil. Thanksgiving war dem Truthahn unbekannt.Wenn der Truthahn alle möglichen Risiken gekannt hätte, wäre die Laplace-Regel durchaus rational gewesen. Doch der Truthahn musste auf bittere Art herausfinden, dass ihm eine wichtige Information fehlte.
Fälschlicherweise anzunehmen, dass alle Risiken bekannt sind, ist eine Gewissheitsillusion. Nennen wir sie die Truthahn-Illusion, obwohl sie vermutlich häufiger bei Menschen als bei Truthähnen anzutreffen ist.“
Giegerenzer bezieht sich auf ein Buch von Nassim Nicholas Taleb „Der Schwarze Schwan”.
Dort heißt es in unserem Kontext:
„Bevor Australien entdeckt wurde, waren die Menschen in der Alten Welt überzeugt, alle Schwäne seien weiß. Diese Überzeugung war unanfechtbar, da sie durch die empirische Evidenz anscheinend völlig bestätigt wurde. Als der erste schwarze Schwan gesichtet wurde, mag das eine interessante Überraschung für ein paar Ornithologen (und andere Leute, denen die Farbe von Vögeln extrem wichtig war) gewesen sein, doch dort liegt die Bedeutung der Geschichte nicht. Sie veranschaulicht eine schwerwiegende Beschränkung bei unserem Lernen durch Beobachtung oder Erfahrung und die Zerbrechlichkeit unseres Wissens. Eine einzige Beobachtung kann eine allgemeine Feststellung, die aus Jahrtausenden von bestätigenden Sichtungen von Millionen weißer Schwäne abgeleitet wurde, ungültig machen. Alles, was dafür nötig ist, ist ein einziger schwarzer Vogel.“
Die Überraschung des Truthahns ist z.B übertragbar auf das unerwartete Eintreffen eines Börsencrashs. Die Anleger sind sich zwar der Möglichkeit einer Spekulationsblase mit folgendem Zusammenbruch der Kurse bewusst, lassen sich aber von der allgemeinen Euphorie mitreißen und blenden.
Und nun zum Schluss erinnere ich mich an ein U3L-Philosophie-Seminar bei dem leider schon verstorbenen Dr. Klaus Potyka im Wintersemester 2008: „Karl Raimund Popper: Alles Leben ist Problemlösen“. Popper vertritt als kritischer Rationalist die These, dass man in der Wissenschaft nicht versuchen soll, zu verifizieren, sondern zu falsifizieren. U.a. verwendet er das Bild, dass die populäre Behauptung, dass alle Schwäne weiß sind, nur so lange galt, bis sie durch das Auftauchen von schwarzen Schwänen widerlegt worden war.
Mehr will ich jetzt nicht mehr „bei-tragen“, um einerseits das Thema nicht „erschöpfend“ zu beleuchten und um mich nicht auf zu „dünnes Eis“ zu begeben. Denn schließlich sollen wir ja alle selbst denken (Kant: Sapere aude, das ist die Devise der Aufklärung).