Frank Behnkes „Thüringer Spezialitäten“ – Meiningener Theatererlebnis mit Wurstvorhang und Rampensäuen
Nach dem Besuch am 18.10.25 der aktuellen Inszenierung „Thüringer Spezialitäten“ von Frank Behnke im Staatstheater Meiningen, zeigt sich ein UniWehrsEL Leser tief beeindruckt von der originellen Verknüpfung regionaler Thüringer Spezialitäten mit dem Bühnenbild. Hinter dem Wurstvorhang öffnet sich eine ganz eigene Welt, ein Zwischenreich, das man als Durchgangsort, Pausenzimmer und Wartesaal bezeichnen könnte. Hier gibt es eine Kühlkammer und ein stilles Örtchen.
Liebe Leser des UniWehrsEL,
In dieser Szenerie treten skurrile Figuren auf: Metzger mit Schweinehälften und die hochgeschätzte Fleischereifachverkäuferin, die durch die Schwingtür erscheint. Ihr fast puppenhaftes Aussehen erinnert an das Seminar „Puppen als Seelenverwandte“ und verlagert den Begriff der Puppe in einen völlig neuen Kontext.
Die fleißig arbeitende Frau wird zur Fleischfachverkäuferin, die am Fließband Würste und andere Leckereien anpreist – ein Bild, das an das berühmte Lebkuchenhaus aus Humperdincks Oper Hänsel und Gretel erinnert, nur dass hier statt Lebkuchen reichlich Fleisch zu sehen ist (dazu passt auch bestens unser Beitrag „Grimms Märchen neu interpretiert).
Eine Hexe gibt es in diesem Szenario nicht, sondern eine Metzgerei. Die Hexe aus „Hänsel und Gretel“ ist das klassische Bild einer Frau, die in ihrer Hütte aus Lebkuchen und Zuckerbäckchen heimlich Menschen lockt, um sie zu verzehren.
In Frank Behnkes Stück „Thüringer Spezialitäten“ übernehmen die Fleischfachverkäuferinnen eine ähnliche Rolle: Sie stehen hinter dem Wurstvorhang, verarbeiten und formen Fleisch mit derselben Hingabe, mit der die Hexe ihren Lebkuchen formt. Beide Figuren arbeiten in einer Art kulinarischer Werkstatt, in der das Produkt – sei es süßer Lebkuchen oder deftige Wurst – nicht nur Nahrung, sondern auch ein verführerisches Symbol für Heimat und Macht ist. Während die Hexe das süße Gebäck nutzt, um Kinder anzulocken, nutzen die Fleischfachverkäuferinnen das herzhafte Fleisch, um das Publikum in ihr „Zwischenreich“ zu ziehen und die regionale Identität zu feiern.
In beiden Fällen wird das Handwerk zur Bühne, auf der Tradition, Verführung und ein Hauch von Unheimlichkeit zusammenkommen (auch interessant dazu unser Beitrag „Bedeutungsaufladung des Essens“).
Hier kommt der Gedanke an das Musical „Sweeny Todd“ ins Spiel, ein Wortspiel zu dem berühmten Barbier‑Mörder Sweeny Todd. In meiner Vorstellung ist Sweeny Todd ein etwas makabrer Fleischliebhaber, der das Schneiden und Formen von Fleisch zu einer Art Ritual erhebt. Während die Thüringer Metzger im Stück das Fleisch mit Freude und handwerklichem Geschick drehen und anpreisen, könnte Sweeny Tood das gleiche Material zu einem Schock‑ und Horrorspektakel umformen. Beide Welten teilen die gleiche Grundzutat – das (Menschen-)Fleisch – doch die Stimmung ist völlig verschieden: bei den Thüringern ein Fest der Heimat, bei Sweeny Todd ein dunkles Spiel mit dem Unbehagen.
Der Kontrast wirft interessante Fragen auf. Wie viel von dem, was die Gesellschaft als Genuss feiert, ist eigentlich ein Produkt einer langen Tradition, und wieviel steckt hinter den industriellen Prozessen, welche die Leute selten sehen? Die Story von Sweeny Tood erinnert den Zuschauer daran, dass Fleisch leicht zum Symbol für Grauen werden kann, wenn es aus dem Kontext gerissen wird. Gleichzeitig zeigt das Theater, dass das gleiche Stück Fleisch in einer regionalen Metzgerei zu einem Symbol für Gemeinschaft, Identität und Lebensfreude wird.
Die Metzgerei verwandelt sich dabei schon einmal in einen wilden Tanzsaal. In einer anderen Szene wird sie zum „heiligen Ort“, im Hintergrund ist eine Karte von Thüringen mit Ausflugszielen wie dem Rennsteig oder Skipisten zu sehen. Die Metzgerei wird zum Schiff der Träume, zum Schauplatz kleiner Sehnsüchte und der Liebe. Eine besondere Form der Liebe ist die Heimatliebe – ein schönes Wort, das manchmal einen bitteren Beigeschmack hat.
In dem kürzesten Märchen der Gebrüder Grimm, „Die wunderliche Gasterei“, wird die ungewöhnliche Freundschaft zwischen einer Leberwurst und einer Blutwurst erzählt. Gegensätze ziehen sich halt an?
Als die Leberwurst eines Tages zu Gast bei der Blutwurst ist, passieren höchst seltsame und wunderliche Dinge. Ein Fremder taucht plötzlich auf und warnt die Blutwurst, sie sei in eine Mörderhöhle geraten. Daraufhin rennt sie so schnell es geht aus dem Haus. Aus dem Giebelfenster schaut die Blutwurst mit einem scharfen Messer und ruft der Leberwurst nach: „Hätt ich Dich, so wollt ich Dich“. Noch mal Schwein gehabt, könnte man sagen! So gruselig wie bei den Grimmschen Märchen geht es glücklicherweise nicht in Thüringen zu.
Thüringen ist das grüne Herz Deutschlands, das Land der Klassik. Ein gewisser Herr Goethe ist extra aus dem Westen hergezogen. Thüringen ist eben das Land der Sagen und der Märchen. In dunkelgrünen Tälern und Wäldern lauert hinter diesem Idyll das Unheimliche und das große Grauen. Und eine Metzgerei ist letztlich doch die besagte Mörderhöhle. Schließlich geht es den Schweinen hier an den Kragen. Praktischerweise wird hier Wurst gemacht, aber wer weiß schon, was in der Wurst noch alles steckt?
Ist das Stück „Thüringer Spezialitäten“ nicht auch ein Vorgriff auf Halloween mit seinen Masken, Kostümen und anderen Wesen? Passen dazu nicht auch die Puppen, die wie Fleischfachverkäuferinnen angezogen sind? Das ist genau der Humor, den die Leute an Halloween lieben. Halloween ermöglicht Menschen, in andere Rollen zu schlüpfen und dem grauen Alltag zu entfliehen. Macht das Stück mit den Thüringer Spezialitäten nicht genau das?
Doch neben Horror gibt es auch eine Gefühlswelt zu erleben. Es gilt die Sentimentalität auszuhalten. In Thüringen gibt es viele vergilbte oder abgewetzte Schilder mit Sentimentalitäten, alte Fassaden, geschlossene Restaurants und längst aufgegebene Dorfmetzgereien.
Das Stück greift diesen Gedanken auf und zeigt ein Bild von einem verlorenen Paradies. Thüringen ist mehr als Rostbratwurst, Senf und Klöße. Es gibt auch viele regionale Produkte zu entdecken, zum Beispiel die Viba‑Schokolade aus Schmalkalden. Das Stück wirft die Frage nach der Identität auf: Wer sind die Thüringer eigentlich? Meininger, Deutsche, Europäer oder nur kleine Würstchen?
Im besten Sinn all diese Begriffe gemeinsam. Thüringen ist mehr als seine Wurstspezialitäten – es ist so reich und vielfältig wie seine Bewohner. Diese Metzgerei ist sinnbildlich die Bühne für alle Thüringer. Auf dieser Bühne versammeln sich der RöhnTropfen, der Senftopf und es tanzt der Kloß mit der Bratwurst. Der Märchenprinz trifft das Ferkel, es wird gesteppt, bis die Schwarte knackt und ein letzter Tango getanzt ist, das Schwein pfeift und die Tränen fließen, begleitet von Musik.
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