Du betrachtest gerade Grimms Märchen neu interpretiert

ein Beitrag von Heiner Schwens

Herr Schwens hat schon öfters für das UniWehrsEL interessante Beiträge, beispielsweise zum Thema der digitalen Kommunikation im Kontext des “Schweigens”, geschrieben. Auch diesmal war das Interesse und auch die Begeisterung groß, als er uns im Seminar “Flanieren durch den Märchenwald” neue innovative Bilderpräsentationen bekannter Grimms Märchen präsentierte. Herzlichen Dank, lieber Herr Schwens!

Auch in 2012, zum 200-jährigen Jubiläum der Grimm`schen Märchen, war immer noch nicht Schluss mit Neuinterpretationen. In diesem Jahr belegte der ‚Action-Reißer‘ Hänsel und Gretel die Spitze der Kinocharts. Darin massakrieren die Geschwister, ausgerüstet mit großen Knarren und gewandet in schwarzes Leder, Hexen. Auf VOX lief die Serie Brothers Grimm, deren Protagonist Ermittler der Mordkommission in Portland und ein Nachkomme der Brüder Grimm ist. Er erkennt in seinen Mitmenschen Abbilder von Figuren aus den Erzählungen seiner Vorfahren und bringt Woche für Woche mörderische Märchenbiester zur Strecke.

Ich möchte zwei Künstler vorstellen, die sich in den letzten Jahren mit neuen Illustrationen und Interpretationen von Märchen im 21. Jahrhundert befasst haben.

Henrik Schrat, 56, ein deutscher Künstler, hat Malerei und Bühnenbild in Deutschland und England studiert und mit einer Arbeit über Comics promoviert. Bei seinen Arbeiten geht er von einem demokratischen, politischen Kunstverständnis aus. Er hält sich fern von qualitativen Werturteilen und stellt den offenen Rezeptionsprozess (die gedankliche und emotionale Wahrnehmung) seiner künstlerischen Werke ins Zentrum seines Schaffens.

Als Projekt seines Lebens bezeichnet Henrik Schrat die in der Tat riesenhafte Aufgabe, der er sich seit 2019 stellt: Sein Ziel ist es, in fünf Bänden, die in fünf aufeinanderfolgenden Jahren erscheinen sollen, alle 240 Grimm`sche Märchen neu zu sortieren, anzuordnen und, am wichtigsten, neu und durchgehend zu bebildern und zu gruppieren.

So verteilt er „Die ungleichen Kinder Evas“ (Grimms Märchen, 1843 Erstveröffentlichung) als „tuscheklecksige Reinigungskräfte“ über die Seiten seiner Erzählkunst (neu gruppiert). „Die Bilder Schrats nehmen den Märchen nicht ihr Eingeschriebensein in ihre Geschichte und versetzen sie doch in unsere heutige Zeit“, so urteilen Fachleute. Die `taz`, Themenbereich Kultur, schreibt hierzu: „Als ob die Märchen um die nächste Ecke spielen: Die neuen Illustrationen von Henrik Schrat zu Grimms Märchen verkuppeln sie mit der Gegenwart.“ 

Ein weiteres Zitat aus der `taz`: „Im Nachwort zum ersten Band von „Grimms Märchen“ geht er auf die Herkunft der Sammlung ein und auf das Projekt der Grimms, „eine deutsche Identität aus dem Geist der Sprache“ zu erschaffen. Das war eine romantische Konstruktion, französische Märchen flossen ebenso wie italienische ein. In Schrats Illustrationen sind sie so deutsch wie eine voll besetzte Berliner U-Bahn. Ihre raue Welt kreuzt sich aber auch mit den Rohheiten der Jetztzeit. Eine grölende Räuberbande kann da auch wie ein Trupp Neonazis aussehen.

Schrats Illustrationen sind schwarze Pinselzeichnungen in den unterschiedlichsten Größen, die der Künstler extra zu den Märchen angefertigt hat. Seine Zeichnungen wirken gleichzeitig zart und grob, realistisch und abstrakt, aktuell und mystisch. Sie umschweben, umtanzen, durchbrechen und durchdringen die Erzählungen. Auf den ersten Blick wird man von der Wucht der schwarz-düsteren Bilder nahezu erdrückt, bis dass die zahllosen detailreichen und fantasievollen Facetten, denen es durchaus nicht an einem gewissen feinen und auch liebevollen Humor fehlt, den Blick wieder aufhellt.

Er zeichnet ausschließlich mit Tusche, deren schwarzer Fluss dabei ein starkes Eigenleben hat. Manchmal ist fast die ganze Seite schwarz, nur nicht die Hand, die davor einen abgeschnittenen Finger hält. Für Schrat ist die Tusche wie ein dunkles Reservoir, aus dem die Gestalten unerschöpflich hervorfließen können und vielleicht auch wieder darin versinken. Und tatsächlich, auch seine Sprache und Erzählweise sind Zeugnis hierfür. So würde der dünne Berliner Schnee als Dreck bezeichnet, die fleißige Tochter bei Frau Holle schüttele die Kissen so heftig aus, dass selbst ein Eisbär hindurchstapft und der Schnee für viele Schlittenfahrten reiche. Frau Holle blicke den Betrachtenden unter ihrer Pudelmütze höchst gegenwärtig an, als hätte sie dem Zeichner im Atelier Modell gestanden.

Die faule Tochter legt in ihrem Bürostuhl die Beine hoch, der Sohn der Zauberin der auch eine Königstochter befreit, lacht mit ihr auf dem letzten Bild des Märchens, so schreibt die ‚taz‘„lacht mit ihr auf dem letzten Bild, bekrönt und sonnenbebrillt, man möchte sagen, in die Kamera, wie auf einem Selfie des Triumphs.Und weiter: „Der Reiter, der „Hans im Glück“ begegnet und mit ihm sein Pferd gegen einen Klumpen Gold tauscht, „reitet“ auf dem Dach eines Automobils, Fabriken stehen qualmend am Wegesrand. Es sind auch viele Kreuzberger Schauplätze in dem Band zu erkennen, der Teufel ist da oft nur eine arme Sau, die vor der U-Bahn betteln muss.“

Viele Protagonisten in Schrats Version der Märchen scheinen aus der Gegenwart in sie hineingesprungen sein. Neu bei Schrat ist hier, dass ihn neben Motive der literarischen Romantik auch die Erzählweisen des Comics sowie die filigranen Silhouetten des Scherenschnitts interessieren. So führt die ‚taz‘ weiter aus, sei Henrik Schrat kein Unbekannter der Szene. „Für das Casino des Deutschen Bundestags hat er einen Fries mit Schlaraffenland-Motiven als Silhouetten gestaltet, in dem zum Beispiel ein Geschwader Brathühner einen Angriff fliegt.“ Er habe ein Zentaur/Kentaur (Mischwesen der griechischen Mythologie aus Pferd und Mensch) auf die gläserne Fassade des Automuseums in Wolfsburg gesetzt, dessen Körper aus vielen mechanischen Elementen bestehe.

Susanne Janssen, 59, ist die zweite Buchillustratorin und Malerin, die ich Ihnen vorstellen möchte. Sie studierte Grafik und Design bei Wolf Erlbruch an der Fachhochschule Düsseldorf und lebt heute im Elsass. Sie ist die renommierteste Illustratorin Deutschlands. Ihre Bilder schmücken Texte unter anderem von Italo Calvin, James Matthew Barrie oder Jutta Richter. Mir liegen zwei illustrierte Märchenbücher von ihr vor, „Hänsel und Gretel“, sowie „Rotkäppchen“.

Was im Gegensatz zu Schrat sofort auffällt, sind ihre kunstvoll montierten Bilder, die von einem hohen künstlerischen Anspruch zeugen, und allein schon deshalb für eine ästhetische Bildung als wertvoll anzusehen sind. Der bekannte Text verschwindet hinter ihnen, die Bilder halten sich an der Textvorlage und lassen keinen Raum für Bescheinigungen zu.

Susanne Janssen verbindet das plastische Malen mit der Collage. Sie kommt mit einer kleinen Farbpalette aus: schwarz, weiß sowie rot dominieren und werden durch wenige andere Töne gebrochen. In ihren Bildern bindet sie seelische Aspekte der Figuren mit ein und gibt ihnen so mehr Tiefe (zur Problematik hierzu am Schluss meiner Ausführungen).

Susanne Janssen gestaltet die Figuren extrem groß, diagonale Formen durchziehen alle Seiten. Die Zeichnungen verstören den Betrachter, man kann sie nicht einfach umblättern, die Augen bleiben an ihnen hängen; Janssen hat die Grundstimmung der Grimm`schen Märchen auf unglaubliche Weise festgehalten. Ebenso die Texte, die sie behutsam dem heutigen Sprachgebrauch und der aktuellen Schreibweise anpasst.

Mit den Bildern von Susanne Janssen liest man die Märchen anders, man erhält tiefere Einblicke in ihre Figuren. Der Betrachter hat die Möglichkeit, nachzudenken, manche Bilder wirken fast gruselig. Die Stimmungen, die im Märchen beschrieben werden, werden durch ihre Illustrationen eingefangen.

Das von Susanne Janssen illustrierte Märchen von „Hänsel und Gretel“ war der Preisträger des Deutschen Jugendliteraturpreises 2008 im Bereich Bilderbuch. Die Jury lobt die seitensprengenden Illustrationen mit denen die Illustratorin neue Perspektiven auf den Märchen-Klassiker eröffnet.

Am Beispiel des Märchens „Hänsel und Gretel“ möchte ich konkrete Einblicke in ihre kunstvollen Illustrationen geben. Ihr Buch erschien 2007, besteht aus 55 Seiten, und wurde 2008 für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. Bei der Beschreibung der Illustrationen beziehe ich mich neben eigener Einschätzung auch auf Jana Mikota, die in hervorragender Weise hierzu berichtet hat.

So lesen wir bei Mikota, bereits das Titelbild zeige, dass uns kein einfaches Märchen erwarten wird. Im überwiegenden Braun des Umschlags leuchten uns zwei Gesichter entgegen, die sich zum Verwechseln ähneln. Janssen wählte für Hänsel und Gretel bewusst eine Person, als Zeichen dafür, dass jeder Mensch auch weibliche und männliche Eigenschaften in sich trage. Sie erleiden die Bedrohung der Welt, den Hunger, gemeinsam und scheinen für immer zusammen zugehören.

Das Erzählen der Geschichte beginnt mit großen Buchstaben, nur wenige Wörter füllen den Raum: „Vor einem großen Walde“, so der Anfang, dem eine Doppelseite Bild folgt, dargestellt ist der dunkle Wald sowie ein angeschossener Hirsch; „wohnte ein armer Holzhacker“, sind dann die nächsten Worte. Das ausgemergelte Portrait des Vaters folgt den Worten: „in seinen tiefliegenden Augen spüren wir die Sorgen.“

Anschließend werden die Mutter sowie Hänsel und Gretel vorgestellt. Erst danach füllen mehrere Sätze die Seiten. Die Akteure sehen desillusioniert aus, blicken am Betrachter vorbei und ihre Sorgen sind fast greifbar. „Als sich die Kinder im Wald verirren“, folgt auf den Text eine Doppelseite mit schwarzen Linien, die Kinder werden in einer Fotomontage eingesetzt. Sie sind gegenüber den Bäumen klein, wirken in dem Bild verloren und harmonieren auf verstörende Weise mit dem Text.

Und weiter beschreibt Mikota, dass die Zeichnungen den Betrachter fesseln, man könne sie nicht einfach umblättern, die Augen blieben an ihnen hängen. Die Angst der Kinder Hänsel und Gretel spiegele sich in ihren Gesichtern wider, als sie in den Wald gehen. Der Wald selbst wirke bedrohlich, seine Darstellung zeige große Tiere und riesige Bäume.

Die beiden Protagonisten würden oft mit geschlossenen Augen (siehe auch Umschlag) dargestellt. Dies hänge damit zusammen, dass Janssen manchmal mit geschlossenen Augen auf dem Boden arbeitet. Für mich ist dieses Märchen eine innere Reise, deshalb fand ich die geschlossenen Augen passend – es geht um eine Art Parallelwelt.

Es gehe der Künstlerin wohl auch um den Anspruch an sich selbst, etwas ganz Neues zu machen. So sagt sie über sich selbst: „Ich kann nur Texte illustrieren, die mich berühren“. Susanne Janssen verbinde, so Mikota, das plastische Malen mit der Collage Technik. Durch das Hin- und Herschieben der Papiere entsteht für den Betrachter das Gefühl einer grenzenlosen Freiheit. Die Figuren werden extrem groß gestaltet, diagonale Formen durchziehen alle Seiten.

Danke für die Impression von Hexe und Hänsel und Gretel von Gordon Johnson auf Pixabay!