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Es gibt Grundbedürfnisse, die uns am Leben erhalten. Dazu gehört zweifelsfrei das Essen. Genährt, gestillt, gefüttert werden, eingebettet in die Gemeinschaft, das ist soziale Erfahrung von Lebensbeginn bis zum Lebensende. Allerdings variieren Geschmacksvorlieben, geben damit auch einen Hinweis auf Herkunft und Habitus (Bourdieu), sind an kulturelle Gegebenheiten und an religiöse Feste gebunden.

„Der Mensch ist, was er isst“ (Feuerbach) trifft somit den Nagel auf den Punkt.

Die Kulturanthropologen sprechen von „Bedeutungsaufladung“ des Essens und meinen damit, über die reine Materialität hinaus gibt es eine spirituelle oder geistige Ebene, die beim Thema der Nahrungsaufnahme und des Essens mitgedacht wird, ohne dass wir darüber dezidiert nachdenken müssen. Gespiegelt werden dabei Träume, Sehnsüchte, Ängste, wie die Sehnsucht nach dem Schlaraffenland, der emotionalen Geborgenheit, der sozialen und religiösen Gemeinschaft. Der Mensch braucht also mehr als ein reines „satt und sauber“, obwohl es Vielen gerade daran fehlt.

Dass nicht nur Nahrungsmitteln eine bestimmte Bedeutung zukommt, damit beschäftigte sich der französische Philosoph Roland Barthes und begründete somit die „Wissenschaft von den Zeichen“ oder auch Semiologie. Die Bedeutungszuweisung zu bestimmten Dingen erfolgt bei uns ganz automatisch, wenn wir an bestimmtes Essen denken. So wird zum Beispiel Milch, stark vereinfacht, emotional und gedanklich mit Mutter und Kindheit verbunden. Oder wie es Barthes selber an einem Beispiel erläutert:

»Wie viele wirkliche bedeutungsleere Bereiche durchlaufen wir während eines Tages?«, fragt sich
Barthes im Nachwort zu den “Mythen des Alltags“. »Sehr wenige, manchmal gar keinen. Ich bin am
Meer: Gewiß, es enthält keinerlei Botschaft. Doch am Strand, wieviel semiologisches Material!
Fahnen, Werbesprüche, Schilder, Bekleidungen, sogar Sonnenbräune – sie alle sind Botschaften,
sie alle teilen mir etwas mit« (BARTHES 2012)

Denken wir zurück an unser Kreuzfahrtseminar zu “Mensch und Mee/hr“, so kommen uns bestimmte Bilder in den Kopf wie “den Horizont erweitern, auf zu neuen Ufern”, hinter denen sich letztlich auch „versorgt und verköstigt“ bergen. Für den Einen ein schlaraffisches Highlight, für die Andere ein Graus. Das rundum sorglos Paket sei zwar „schrecklich amüsant“, solle aber bitte ohne ihn demnächst stattfinden, so schreibt es der amerikanische Schriftsteller David Foster Wallace eben von so einer Reise zurückkehrend. Und soviel ist sicher, Wallace vermag ebenfalls semiologisches Material an Bord treffsicher zu deuten.

Ein „Leberwurstbrot sei auch mal ganz schön“, kann man bei der Kulturanthropologin Joana Schröder in ihrer Forschungsarbeit zu Praktiken und Performance „Auf See“ nachlesen, denn Überfluss führt zur „spezifisch sensorischen Sättigung“ oder frei nach Bernaise zu dessen „Sauce-Bernaise-Syndrom“. Oder was denken Sie, wenn es fünfmal in der Woche Mahlzeiten, die zur Völlerei anregen, gäbe?

Apropos (Leberwurst-)Brot. Brot als Grundnahrungsmittel gilt nicht nur als lebensnotwendig, sondern steht in der christlichen Eucharistie für den Leib Christi, weil Jesus ihm beim „Abendmahl“ diese Bedeutung zugesprochen hat. Gerade rund um die religiösen Feiertage wie Ostern oder Weihnachten werden Speisen und den Speisen und Getränke mit Bedeutung aufgeladen. Osterlämmer gelten als Friedenssymbole, der weihnachtliche Christstollen soll an das in Leinen gewickelte Jesuskind erinnern.  

Metaphorisch gesprochen und auch Wort wörtlich ‘verleiben’ wir uns etwas ein. Die Literaturwissenschaftlerin Tanja Rudtke beschreibt in „„Narrative Delikatessen – Kulturelle Dimension von Ernährung“, bedeutungsträchtige Szenen von Nahrungsaufnahme und -zubereitung: „Während des Kochens teilt Großmutter den Speisen Eignungen zu“ und analysiert die Mythisierung weiblicher Nahrungszubereitung in Romanen der Gegenwart von Maja Haderlap, Kerstin Hensel und Zsuzsa Bánk.

Zsuzsa Bánk nimmt in „Die hellen Tage“ (2011) eine Kindheitsgeschichte ins Visier, bei der das Backen von Osterlämmern eine große Rolle spielt. Kerstin Hensel beschreibt die Backrituale in einem fiktiven Haus im Erzgebirge, dem Spinnhaus. Hier bereiten drei steinalte Frauen, alle über hundert Jahre alt, das kalorienreiche Weihnachtsgebäck Christstollen zu: „Barbara besorgte die Zutaten: Rosinen Korinthen Rum Zitronat Mandeln Zitronen Mehl Hefe Zucker Milch Salz und Butter schaffte sie mit der Kiepe heran. Hundertjährig buckelte sie die Waren von der Konsumverkaufsstelle den Geringsberg hoch zum Spinnhaus und lud alles auf dem Küchentisch ab.“ Danach kneten die drei Frauen den Teig in die traditionelle Stollenform: oval, mit einer Längsfalte in der Mitte, die, mit Puderzucker weiß angestaubt, an das in Leinen gewickelte Christkind erinnern soll: „Sechs heilige Hände strichen über die länglichen ineinandergeschlagenen Teigstücke, befühlten sie, ließen das Kindlein in jeder Mandel, jeder Rosine entstehen, der nun auf ein Backblech gelegt und für anderthalb Stunden in den Ofen geschoben wurde. Nach dem Backen bestrich Barbara die heißen Stolln mit Butter. Immer und immer wieder, bis alle Butter aufgebraucht war. Streute dick Zucker darüber und bedeckte die Wundergeburt schließlich mit einer Lage Puderzucker. Und die Alten sahen, daß es sehr gut war und verließen am Heilig Abend das Spinnhaus.“

Es geht nicht nur um eine verdiente, seltene Gelegenheit der Völlerei an einem Festtag, sondern auch um die Armenspeisung am Weihnachtsabend. Das Teilen, gemeinsame Essen und die Erinnerung an Jesus Geburt sind christliche Zeichen der der Nächstenliebe und tröstliche Zeichen der sozialen Gemeinschaft, so Rudkes Ergenisse.

Nach Tanja Rudke ist ein Feiertag in diesem Sinne immer auch Nicht-Alltag, an dem man sich etwas gönnt, an dem man spezielle, besondere Speisen zubereitet und auch mal etwas mehr essen kann. Festtage haben heute das Privileg des kalkuliertes Grenzüberschreitungsmomentes in der bürgerlich-industriellen Leistungsgesellschaft. Die Wunschvorstellung vom Überfluss war früher durch die reale Erfahrung des Mangels gekennzeichnet, barg auch den Traum und die Sehnsucht eines sorgenfreien und „gesättigtem“ nicht so wie zuweilen heute eines „übersättigtem“ Lebens in sich.