Grusical „Sanatorium zur Gänsehaut“; Schönheitswahn, Optimierungssucht und menschliche Barbies
Der menschliche „Optimierungswahn“ ist immer wieder Gegenstand unserer Beiträge. Ob es um den Rausch geht, einem aktuellen Megatrend mit Ziel der Optimierung des Lebens, oder der Selbstoptimierung mit Schönheitswahn wie sie uns Filme sarkastisch wie The Substance“ zeigen. Auch im Frankfurter Schauspiel mischen sich Musical und Satire im „Sanatorium zur Gänsehaut“, zeigt sich Optimierungssucht, bei der Insassen zu seelenlosen Puppen mutieren. Dazu der Brief einer Leserin.
Sehr geehrte Redaktion des UniWehrsEL,
Was ist eigentlich Schönheit? Liegt diese nicht immer im Auge des Betrachters? Werden Menschen zu lebenden Puppen wie im Film „Barbie“, wenn sie um standardisierte Schönheitsideale buhlen? Darf dabei jedes Mittel recht sein?
Zunächst wird der Zuschauer in die Welt der Reichen und Schönen entführt. Diese Leute haben der Außenwelt entsagt und den persönlichen Eskapismus auf die Spitze getrieben. Kritiker von Till Schweiger Filmen werfen seinen Werken regelmäßig Flucht vor der Realität in Illussionen und Vergnügen vor, weil er nur selten die realen Lebensbedingungen von Menschen in seinen Filmen darstellt, sondern häufig Menschen in künstlicher Umgebung zeige mit keinen „echten Problemen“. Nach dem gleichen Schema funktioniert das satirische Stück „Sanatorium zur Gänsehaut“ von Ferdinand von Schmalz.
Umrahmt vom herrlichen Alpenpanorama leben die Figuren abgeschieden im Sanatorium. Mir kam beim Stichwort Sanatorium und Abgeschiedenheit sofort Thomas Manns Zauberberg in den Kopf, weil die Figuren sich in dem Roman auch aus der „bösen Welt“ zurückziehen wie in diesem Stück. Fernab von Themen des Alltags wie: kann ich meine Miete bezahlen? komme ich pünktlich zur Arbeit? herrscht beim Sanatorium zur Gänsehaut das Motto: Die ganze Welt dreht sich nur um mich, denn ich bin nur ein „Egoist“ von Falco.
Die Insassen des Sanatoriums sind nichts anderes als lebende Marionetten, die sich dem unbarmherzigen Schönheitswahn hingeben – ein satirischer Spiegel der heutigen Gesellschaft, der an Filme wie The Substance (der Film wurde bereits im Blog besprochen) oder Der Tod steht ihr gut erinnert, in denen Körper und Geist zu reinen Schönheitsobjekten verkommen. Der Zuschauer befindet sich im Leben von superreichen Multimillionären, welche die Konservierung ihres Leichnams planen. In dieser Welt ist „Longevity“, dauerhaftes Leben, zu einer Industrie geworden. Es gibt an diesem Ort Fitness und Op-Junkies. Der Traum vom ewigen Leben scheint fast schon erreicht.
Das Bühnenbild von Moritz Müller verstärkt diese Metapher: Eine isolierte Privatinsel, umgeben von einem stillen, unendlichen Wasserbecken, auf der die Figuren der Welt entflohen sind. Die Insel wirkt wie ein exklusives Wellness-Resort, doch ihr Wasser ist kein erfrischender See, sondern hat einen tiefen Abgrund, in dem die Realität des Alterns erstickt werden soll.
Das Thema des Alterns erscheint wohl in vielen Kulturen ein Problem und wird unterschiedlich gelöst, wie wir im Beitrag „Das tiefste Blau“ nachlesen konnten.
Auf dieser Insel lebt Dr. Klotz. Er ist der Arzt des Sanatoriums gespielt von Wolfram Koch. Mit seiner starren Gesichtsmaske agiert er wie ein Puppenspieler. Angedeutet wird aber auch Dr. Klotz könnte ein neuer Dr. Frankenstein sein. Seine Lösung für ewiges Leben ist ein Nacktmull – seine Haut ist nicht faltig und scheinbar unverwundbar. Im Laufe des Stücks verwandelt seine Patienten in knöcherne Personen. In einem seiner Keller tüftelt er an Collagen‑Neogenese und Nacktmull‑Experimenten. Seine Vision ist klar: das Altern soll aus der Puppen-Werkstatt in die weite Welt gesetzt werden, sodass jede Falte, jeder Krähenfuß und jede Hängebacke im Labor zu einem fehlerhaften Bauteil wird, das ausgetauscht werden muss.
Hannelore Krautwurm‑Bouillon (Anna Rupin) fordert den Doktor an einer Stelle auf: „Transplantieren sie ihre Visionen, da in mein Zerfallsprodukt von meinem Körper!“ Sie glaubt an die Unvergänglichkeit und die Formel „for ever young“ (nicht nur ein Song von Alphaville, auch eine ZDF Produktion 2023 wie können wir das Altern stoppen). Sie glaubt auch an das Versprechen des Dr. Klotz. Sie nutzt pflanzliche Wirkstoffe, Skalpelle und das Versprechen, dass man nach einer Behandlung nicht mehr altert, sondern zu einer perfekten Puppe wird, die in Schaufenstern glänzt, aber nie wieder atmet.
Die Hauptfigur, die Klatschreporterin Lio Laksch (Lotte Schubert), erscheint zuerst als geisterhafte Stummfilm‑Diva auf einer Videoleinwand, dann als reale Gestalt, die sich von Klotz und Hannelore in einen glänzenden, makellosen Anzug pressen lässt. Ihr Gesicht sieht eigentlich normal aus, aber in der Abgeschiedenheit der Schweizer Berge wird Lio von den anderen zu einer Puppe gemacht, die äußerlich strahlt, innerlich jedoch erstarrt ist.
Der Concierge des Sanatoriums Anton (Christoph Pütthoff) fungiert als Zirkusdirektor dieses grotesken Karnevals. Er wirkt in seinem Aussehen, an einen Teufel erinnernd, der seine eigenen Pläne mit den Insassen verfolgt. Sie sollen nicht mehr das Sanatorium verlassen. Er verteilt die Sonderbehandlungen, die die Menschen in groteske Anzüge zwängen, die mehr an Schaufensterpuppen erinnern, als an lebendige Körper. Sein Lächeln ist zu glatt, seine Bewegungen zu mechanisch – er ist selbst ein lebendiger Schalterbeamter, der die Besucher in das Sanatorium führt.
Die übrigen Insassen – die Influencerin Leslie Mark (Anabel Möbius), deren Gesichtshaut bei einer Behandlung durch Dr. Klotz verschwand, ihr Mann ein Sänger, der bei einem Streit seine Singstimme verloren hat, gehören zu den Insassen des Sanatoriums, die bereits dem Einfluss des Dr. Klotz ganz verfallen sind.
Leslie Marks ist ein Kind ihrer Zeit. Als Influencerin und Model vermarktet sie sich selbst. Für ihre Follower muss sie immer attraktiv bleiben. Deshalb muss sie sich ständig neu erfinden. Ihr Mann, ein Sänger, lebt in der Maschinerie des Opernbetriebs und fliegt von Termin zu Termin. Plötzlich fängt seine Stimme an, nicht mehr zu funktionieren. Aus diesem Schreckmoment hat er sich von der Opernwelt in die Alpenwelt begeben, um dem Druck des Singens zu entfliehen. Nun macht er sich neuen Druck. Er möchte gesund sein und sich optimal ernähren.
Ein skurriler Einfall ist, dass sich die Influencerin auf ihre Natürlichkeit am Ende des Stücks besinnt und alle Schönheitsoptimierungen wieder rückgängig machen will. Dabei will sie ihre Follower teilhaben lassen. Mit solch einer Person will der Sänger dann doch nicht mehr zusammen sein.
Ein Stilelement des Stücks ist, dass es sich selbst als Grusical bezeichnet – eine Mischung aus Musical und Gruselfilm. Viele Botschaften der Figuren werden in Songs dem Zuschauer erzählt. Diese Momente erinnern mich an Schlagergesang wie bei Helene Fischer. Das macht diese Momente sehr verrückt.
Insgesamt ist das Stück ein bissiger, böser Satire-Spiegel des Autors Ferdinand Schmalz: Es zeigt, wie Menschen aus der zivilisierten Welt bereit sind, die eigene Menschlichkeit zu opfern, um in einer Welt zu leben, in der Schönheit das einzige gültige Kapital ist. Die Puppen-Metapher macht deutlich, dass der Drang nach Perfektion die Menschen zu Marionetten macht, die sich selbst nicht lieben können. Sie laufen einem unerreichbaren Schönheitsideal hinterher und machen sich selbst und ihre Umgebung unglücklich.
Ich hoffe, dass diese Analyse dem Leser oder der Leserin verdeutlicht, wie tief der Schönheitswahn in die Herzen der (reichen) Leute eingedrungen ist und wie geschickt die Satire die Absurditäten dieser heutigen Optimierungskultur entlarvt.
Mit nachdenklichen Grüßen, eine kritische Zuschauerin
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