Du betrachtest gerade Hannah Arendt „nunc stans“ (stehendes jetzt),  Sehnsucht nach Zeitlosigkeit

Phillipp Hanske und Benedikt Sarreiter begeben sich in „Ekstasen der Gegenwart“ nicht nur auf archaische Wege in den Rausch, sondern auch auf Spurensuche nach dem Seelenheil im Westen. Ihre Stichwörter sind dabei „Affektkontrolle“, Kult des Moments“ und „Suche nach dem Wunder-Selbst“. Sie beginnen mit Hannah Arendt, die im ersten Band ihres Buches Vom Leben des Geistes das Wesen des menschlichen Denkens analysiert und dabei Rekurs auf einen Kafka Text namens „Er“ (1920) nimmt. In „Er“ gelingt dem namenlosen Menschen ein Zustand der absoluten Gegenwart, ein Verharren in einer zeitlosen Präsenz, den ein „nunc stans“ oder „stehendes Jetzt“ auszeichnet. Dieses „nunc stans“ regt nicht zuletzt Autoren wie Eckhart Tolle an, mystische Traditionen und die daraus resultierende Lösung aller Leiden in Form von Selbsthilfebüchern millionenfach zu verkaufen.   

Dieses „nunc stans“ bedeutete im Mittelalter die Ewigkeit und Unendlichkeit Gottes; Mystiker und Mystikerinnen glaubten das „stehende Jetzt“ durch ein „in Gott sein“ zu erreichen. Und um mit Kafka zu sprechen, in eine Nacht zu kommen, die form- und zeitlos ist. In Selbsthilfebüchern, so Hanske und Sarreiter, sei es dem kanadisch-deutschen Autor Eckhart Tolle gelungen, dieses „Nicht-mehr-denken-Müssen“ – Lehren zur Versenkung in das „stehende Jetzt“ – aus den mystischen Denken des Christentums, Hinduismus oder Zen-Buddhismus als Lösung für Leiden aller Art gezielt als Selbsthilfe anzubieten. Sehnt sich das Subjekt danach, endlich Frieden zu finden, weil es Angst vor dem Kommenden hat und das Bewährte keinen Schutz mehr zu bieten vermag, dann drohe von allen Seiten Verunsicherung. Das Kontinuum des Zeiterlebens sei in friedlichen Phasen ein stetiges, von Gefühlen der Zuversicht genährtes. Würde es aber gestört, etwa durch neue Technologien, grundlegende Umwälzungen oder Kriege, bröckelten alte Gewissheiten. Das knüpft nun unmittelbar an Wilke Weermanns „Alle Zeit der Welt„, mit allen Sorgen um eine unsichere Zukunft, an.

Schon in Kafkas Texten sei der Wunsch herauszulesen, in eine „Zeitlosigkeit des Jetzt“ einzusteigen und eine Flucht in die ich-lose-Ewigkeit zu wagen, in der weder Vergangenheit noch Zukunft in Betracht gezogen werden müssten. Ziele dabei seien, Körpertechniken zu finden, Verrenkungsübungen hinzuzuziehen, mystische Religion so anzupassen, dass sie den westlichen Bedürfnissen entsprächen und so monetarisiert werden können (vgl. Hanske, Sarreiter, 2023, 195 ff).

Vom Zeitgefühl des denkenden Menschen bei Hannah Arendt

Das letzte große Werk Hannah Arendts erscheint wie ein Vermächtnis. Arendt setzt sich mit dem Wesen des Denkens auseinander. Dies führt die Philosophin zur Betrachtung der beiden anderen spezifisch menschlichen Fähigkeiten: des Wollens und des Urteilens. Ein Gedanke Arendts gilbt dem „nunc stans“ – dieser Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft. Anhand von Kafkas Parabel „Er“ erklärt sie die Zeitenthobenheit des Denkenden, der in einem Zwischen lebt: im Kampf gegen die Last der Vergangenheit, in Furcht vor einer erdrückenden Zukunft, der Räumlichkeit des gewöhnlichen Lebens und der Kontinuität der täglichen Geschäfte enthoben: in einem nunc stans, wo sich die reine Kontinuität des Ich-bin offenbart (S. 198 ff.).

Lili Zhang beschreibt in ihrer Dissertation zu „Hannah Arendt und das philosophische Denken“ vom Zeitgefühl des denkenden Ichs. Arendt verdeutliche dies anhand einer Parabel von Franz Kafka. In dieser Parabel schildert Kafka einen Menschen, der zwei Gegner hat, mit denen er kämpft. Der erste, der ihn von hinten bedrängt, erscheint für Arendt wie die Vergangenheit, der zweite, der ihm den Weg nach vorn verwehrt, wie die Zukunft.

Für das denkende Ich, so erklärt Zhang, Hannah Arendt deutend, könne sich das Zeitgefühl nicht als eine Folge, sondern allein als ein dauerndes Jetzt, in dem Vergangenheit und Zukunft zusammenfließen, erweisen .Diesen Zwischenraum, so Zhang, charakterisiere Arendt als ein ’nunc stans‘:

„Mit anderen Worten, der Platz des denkenden Ichs in der Zeit wäre der Zwischenraum zwischen Vergangenheit und Zukunft, die Gegenwart, jenes geheimnisvolle und schlüpfrige Jetzt, eine bloße Lücke in der Zeit, auf die nichtsdestoweniger die festeren Zeitformen der Vergangenheit und der Zukunft insofern hingeordnet sind, als sie das bezeichnen, was nicht mehr ist, und was noch nicht ist.“

Und weiter zitiert sie Arendt, die die Bedeutung von Vergangenheit und Gegenwart der Zeit nach Kafkas „Er“ interprtiert:

„Ohne den Menschen gäbe es keine Zeit. Der Mensch ist in die unaufhörliche kreisläufige Bewegung des Universums eingebrochen (oder eingelassen); nur weil diese Bewegung auf ihn stößt und gegen ihn anbrandet, wird sie ‚gradlinig‘; er (Kafka) ist die Gegenwart, an der sich Vergangenheit und Zukunft scheiden – die Vergangenheit, die ihn nach vorne stösst, die Zukunft, die ihn zurückzustossen scheint. Und genau dies, der Zwischenraum, das Zwischen zwischen Vergangenheit und Zukunft, wird im Denken aktualisiert: Er denkt zurück an die Vergangenheit, er denkt vor in die Zukunft, die beide unsichtbar, ohne dies Denken gar nicht wären.“

„Er“ – kurzer Einblick in Franz Kafkas Essay 1920

„Er ist bei keinem Anlaß genügend vorbereitet, kann sich deshalb aber nicht einmal Vorwürfe machen, denn wo wäre in diesem Leben, das so quälend in jedem Augenblick Bereitsein verlangt, Zeit sich vorzubereiten, und selbst wenn Zeit wäre, könnte man sich denn vorbereiten, ehe man die Aufgabe kennt, d. h. kann man überhaupt eine natürliche, eine nicht nur künstlich zusammengestellte Aufgabe bestehen? Deshalb ist er auch schon längst unter den Rädern, merkwürdiger aber auch tröstlicher Weise war er darauf am wenigsten vorbereitet.“

Kafkas Geschichte, so interpretieren es Hanske und Sarreiter, lasse sich mit Arendt so lesen: Kafkas bedauernswertes namenloses „Er“ (eine Umschreibung des modernen Subjekts), sei zwischen zwei Gegnerinnen geraten, die ihm keine Luft zum Atmen lassen: der Vergangenheit und der Zukunft. Gelänge ihm oder ihr aber der Zustand der absoluten Gegenwart, des „nunc stans“, fände er oder sie einen Ort der stillen Reflexion, einen Rückzugsort. Quasi einen Sehnsuchtsort, „um aus dem Ring zu steigen, wenn die beiden Gegnerinnen besonders auf ihn einstürmen“ (vgl. ebd., 196).

„Alles, was er tut, kommt ihm zwar außerordentlich neu vor, aber auch entsprechend dieser unmöglichen Fülle des Neuen außerordentlich dilettantisch, kaum einmal erträglich, unfähig historisch zu werden, die Kette der Geschlechter sprengend, die bisher immer wenigstens zu ahnende Musik der Welt zum erstenmal bis in alle Tiefen hinunter abbrechend. Manchmal hat er in seinem Hochmut mehr Angst um die Welt, als um sich.“

Diesen Sehnsuchtsort scheint nun Eckart Tolle als „einer der wichtigsten spirituellen Lehrer unserer Zeit“ wie ihn seine Anhänger beschreiben, in seinem Buch über „Die Kraft der Gegenwart“ dem bedrängten Leser als „nunc stans“ anzubieten. Denn so sein Credo, „das Verhaftet-Sein an Vergangenheit und Zukunft ist gerade die sicherste Strategie, genau dem auszuweichen, was als wahres Leben, als wahre Fülle des Seins, jederzeit „da ist“: und zwar in diesem Moment, in der Gegenwart, in der Stille des „Jetzt“. Denn bekanntlich fände sich ja gerade der „westliche“ Mensch nur zu gern einer Gestalt wie Goethes Faust wieder, der bekanntermaßen als Ur-Typus des „strebenden Menschen“ geschätzt würde.

Danke für das Bild von S K auf Pixabay