Du betrachtest gerade Wilke Weermann „Alle Zeit der Welt“ oder die  Sehnsucht nach der „richtigen“ Zeit

Zeit ist ein Thema, mit dem sich Menschen seit „Zeitgedenken“ beschäftigen. Kann man die Zeit gänzlich beherrschen oder als Zeitreisender Fehler revidieren, Glücksmomente wiederholen, dem Tod ein Schnippchen schlagen. Bereits mit seinem Erstlingswerk dem Stück „Unheim“ – ebenfalls im Blog beschrieben – hatte der Regisseur Wilke Weermann großen Erfolg am Schauspiel Frankfurt gefeiert. „Unheim“ gewann den Kurt Hübner Regiepreis für junge Regisseure in 2024. Sein neuestes Stück „Alle Zeit der Welt“ hatte am 20. September 2024 Uraufführung. Für November 2024 gibt es noch Restkarten in den Kammerspielen Frankfurt. Ein Leser des UniWehrsEL hat es für uns besucht und beschrieben, mit herzlichem Dank!

Liebe UniWehrsEL-Leser,

Zeit ist mehr als nur die Uhrzeit und eine physikalische Größe. Lässt sie sich beherrschen? Oder ist sie gar eine Illusion? Was wäre, wenn Zeitreisen möglichen wären? Kämen wir damit klar, wenn Erinnerungen Zukunft und Folgen Ursachen wären? Gibt es eine Sehnsucht nach der „guten alten Zeit“? Wie kostbar ist die eigene Zeit und womit wollen die Menschen sie verbringen? „Alle Zeit der Welt“ von Wilke Weermann dreht sich nicht nur um diese menschlichen Fragen, sondern auch um Mediennutzung, Horrorgedanken und Dystopien. Doch der Reihe nach:

Im Jahr 1999 fieberte die Welt auf das neue Jahr 2000 hin. Mit dem Jahrtausendwechsel waren jedoch auch Ängste vor einem sogenannten „Millennium-Bug“ verbunden. Dabei stellten sich die Leute vor, welche technischen Geräte, z.B. Computer- oder Banksysteme, nicht mehr funktionieren könnten. Es wurden im TV große Ängste geschürt, die Welt könnte in 2000 ins Chaos stürzen. Diese Ausgangslage nimmt der Autor Wilke Weermann zum Anlass, sein neues Theaterstück „Alle Zeit der Welt“ für die Kammerspiele Frankfurt zu entwickeln.

In seinem neuen Stück „Alle Zeit der Welt“ geht es um die Frage nach der Zukunft. Den Begriff „Zukunft“ könnte der Zuschauer als das, was morgen passieren wird, ansehen. Dieser Zukunftsbegriff kann in einer Woche oder einem Jahr eintreten oder an einem unbestimmten Tag irgendwann, vielleicht aber auch niemals. Die Zukunft ist aber auch eine Anzahl vor uns liegender Möglichkeiten, die potentiell eintreten könnten. Mit Hilfe von Verträgen, Buchungen, Alltagsroutinen versucht der Mensch, die Zukunft nach seinen Vorlieben und Abneigungen, Hoffnungen, Ängsten eigenmächtig zu gestalten. So kann der Mensch schließlich seine Zeit definieren. Zeit ist der Versuch des Menschen, seine Möglichkeiten zu planen und in der Realität umzusetzen. Soweit die philosophische Betrachtung von Zukunft und Zeit.

Der Begriff Zeit taucht bereits im Namen des Stücks „Alle Zeit der Welt“ auf. In Weermanns Stück befindet sich der Zuschauer, wie bereits in der Einleitung des Textes angeklungen ist, an einem Wendezeitpunkt. Konkreter ausgedrückt ist es der 30.12.1999.

In einer neu eingerichteten Pension fiebert die Inhaberin Sandra – kleines Wortspiel Sandra/Kassandra – der Jahrhundertwende entgegen. Kassandra, das ist die Figur in der griechischen Mythologie, deren Prognosen von ihren Mitmenschen nicht geglaubt werden, weil sie den Trojanern erschreckende Prognosen voraussagt, und niemand diese dunklen Prophezeiungen ertragen kann. Für den belesenen Zuschauer ist klar, dass einer Figur mit dem Namen Kassandra in einem Stück, indem es um die mögliche Zukunft geht, nicht geglaubt wird. So befragt Sandra in dem Stück ein modernes Orakel nach der unmittelbaren Zukunft. Der schlaue Leser ist schon auf die Lösung gekommen: es geht um Nachrichten im Fernsehen.

Aus der Sicht des Jahres 2024 betrachtet, beschreibt 1999 traditionelle Medien. Eine Zeit, in der das Fernsehen zwar dauerhaft verfügbar war, aber von Sandra nur zum Einschlafen für „schrecklich-schönen Albträume“ einer nahenden Zukunft im Horrorformat genutzt wird. Für den Zuschauer ist es aus dem Blickwinkel der 2024er ungeheuer beruhigend, dass Sandras Untergangsszenarien aus dem TV, alle in Bezug auf das Jahr 2000, nicht eingetroffen sind.

Weermann entwickelt der Menschheit aus diesem „wir sind noch einmal davongekommen“ (gleichnamiges Stück des US-amerikanischen Schriftstellers und dreifachen Pulitzer-Preisträgers Thornton Wilder) eine eigenwillige Zukunftsvision. Diese lautet wie folgt: Menschen aus der Zukunft wünschen sich in das ‚unschuldige‘ Jahr 1999 zurück. In die Zeit der, aus heutiger Sicht ‚naiven‘ Pensionseigentümerin Sandra. Das macht sich ein pfiffiger Geschäftsmann aus der fernen Zukunft zu eigen und bietet Reisen in diese glückliche vergangene Zeit zu Sandra an. Doch bleibt diese Zeit nicht glücklich, weil Sandra von den Zeitreisen erfährt und davon profitieren will. Sind alle ihre Gäste nicht letztlich Zeitreisende mit einer bitteren Zukunftserfahrung und einer Sehnsucht nach einer glücklichen Vergangenheit?

Das Verwirrspiel geht weiter, Menschen unserer Zeit reisen und staunen, wie es gestern war und morgen sein wird. Menschen aus der Zukunft schauen vorbei und blicken auf uns zurück. Sie fragen: Was werden die Menschen der Zukunft über uns sagen? Und wissen wir das nicht schon?

Jedenfalls tauchen in der Kleinpension Schwartz kurz vor der Wende zum Millenium ungewöhnliche Urlaubsgäste auf wie der Inhaber der Zeitreiseagentur Angelus Novos („Neuer Engel“). So entpuppt sich sogar Sandras Lebensgefährte als Auswanderer von einer schwer geplagten Zukunft. Sein Name ist Polli und diese Koseform von Apollon, frei nach dem griechischen Gott des Lichts und der Künste, entpuppt sich ebenfalls als Mann der versucht, Licht ins Dunkle zu bringen.

Es taucht auch ein Zeitpolizist auf. Dieser will die anderen Besucher aus der Zukunft wieder zurück in ihre tatsächlichen Zukunftswelten bringen. Im Laufe des Stücks entstehen Risse im Zeitenraum. Anfangs nur kleine Störungen auch „Bugs“ genannt. Eben jene technischen Bugs vor denen Sandra im TV gewarnt wird. Stören die Gäste Sandras Zukunft? Wird Sandras Zukunft zerstört und sie bleibt in einer defekten Zeitschleife hängen? Diese Entwicklung deutet sich zumindest am Ende des Stücks an.

In „Unheim“ bleibt die Hauptfigur in einer futuristischen Wohnungssiedlung, nach einem selbstverursachten Stromausfall, ebenfalls im digitalen Nichts als Datenleck stecken. So scheint das neue Stück nur eine Variante dieses Zeitebenen-Themas zu sein.

Gerne spricht der Rezensent die lustig-skurrile Atmosphäre des Stückes an. Das liegt an den fröhlich bunten Farben der Kostüme der Darsteller. Zwar geht es gedanklich in düstere Zukunftsvisionen, aber die Pension und die Gäste verströmen einen liebenswerten Charme, der im großen Gegensatz zu der Düsternis der Zukunft steht.

Diese Tatsache sollte den Zuschauer beruhigen, dass die Zukunft zwar planbar ist, aber sicherlich nicht bis ins letzte Detail vorherbestimmt ist. So gewinnt der Zuschauer den positiven Eindruck, er könne seine Zukunft zu einem gewissen Grad selbst bestimmen und gestalten, vielleicht aber aufhören, auf die Zukunft zu hoffen und mehr die Gegenwart genießen.

Dies wäre eine positive Botschaft für alle die Planungsoptimierer die auf eine durchgetaktete Zukunft setzen. Mit dieser Vision der Zukunft kann der Zuschauer möglicherweise besser umgehen. So wird der Titel „Alle Zeit der Welt“ möglicherweise zur Verheißung. Hat der Mensch nicht alle Zeit der Welt, um seinem Leben eine positive Wendung zu geben?

Wer nun Lust bekommen hat sich der Zeit zu widmen, kann dies mit dem Stück. Ist es nicht besser seine Zeit in den „Kammerspielen Frankfurt“ zu verbringen, als sich Horrorszenarien im TV oder heute im Internet anzuschauen? Sind das TV und das Internet nicht schreckliche Lebenszeitfresser, die (unbegründete) Angst vor der Zukunft auslösen?

Der Weltuntergang scheint ein spannendes Szenario zu sein, sonst würde Sandra dem Thema nicht so viel Aufmerksamkeit schenken. Versäumt Sandra nicht ihre beste Zeit mit Horrorgedanken? So könnte es dem ein oder anderen Zuschauer gehen, wenn er sich selbst und seine Anfälligkeit für Horrorszenarien kritisch reflektiert. Der hoffnungsvolle Blick auf eine strahlende Zukunft bleibt dem Zuschauer solcher düsteren Dystopien vielleicht verborgen. Denn so zeigt der Einstieg in 2000, manchmal passiert nichts von all den düsteren Prognosen und künstlich aufgeblasenen Problemen. Außer ein voller Schrank mit Dosenkonserven im Falle von Sandra, ob sie diese Dosen alle mit den Gästen verspeist hat, ist nicht überliefert.

Und zum Schluss noch ein zum Thema passendes Music Video von Zager und Evans „In the year 2525“ im Zusammenschnitt mit dem klassischen apokalyptischen Film Metropolis: „Here’s a music video I cut together with footage from the classic apocalyptic sci-fi film Metropolis, combined with sci-fi folk song In The Year 2525 by Zager & Evans. I really found them fitting together in a dystopian transhumanist meets Aldous Huxley’s Brave New World kind of way. What awaits humanity after the intense technological and biological developments set in motion? If we ever get there? Thea von Harbou had some intensively accurate visions of the future. And Fritz Lang did the visual masterpiece. Not to forget Brigitte Helm and her impressive acting. All this is now a classic topic about the future of humanity. In this video I wanted to concentrate the idea, the message and the visions of the future. With the classic one hit wonder song and outstanding vintage film footage“ (Sanjin Đumišić, 2014).

Liebe Grüße von einem sehr nachdenklich gewordenen UniWehrsEL-Schreibenden

Danke für das Bild von SpiderM auf Pixabay
  • Beitrags-Kategorie:Blog
  • Beitrag zuletzt geändert am:11. November 2024
  • Lesedauer:10 min Lesezeit