Die mythische Kollektivgewalt gegen „Sündenböcke“, so der Religionsphilosoph Girard, gehörten wie Gottesopfer und christliche Passion zum selben Typus. Der Sündenbock stehe stellvertretend für die Reinigung der Gemeinschaft, die ihn „in die Wüste treibt“. In Politik oder Kultur stelle sich oft die Frage „Wer ist hier eigentlich das Opfer?“, so die Wissenschaftler Uwe Steiner und Wim Peeters von der Uni Hagen. Sie definieren die Doppelbesetzung des deutschen Wortes „Opfer“, als passives, Opfer von etwas zu sein (Unfall), aber auch als aktives Opfer, etwa indem man sich für eine bestimmte innere Überzeugung aufopfert. Dazu die Gedanken zu einem prominenten Beispiel, mit herzlichem Dank an Nahid Ensafpour!
Studentin protestiert in Unterwäsche im Iran! Schock, Verwirrung, Bewunderung, Staunen oder Opfer eines politischen Skandals, Victima und Sacrificium?
Vor einer Woche wurde ein Bild in den sozialen Medien millionenfach angeklickt. Die Titel dieses Bildes erschienen in unterschiedlichen Fassungen auf der ganzen Welt. Sie berichteten über eine Studentin im Iran, welche in Unterwäsche protestierte.
Wie kam es dazu? Die Studentin hat sich, wohl als Widerstand gegen die Kleiderordnung sowie den Kopftuchzwang, bis auf die Unterwäsche entkleidet. Vorher wurden Teile ihrer Kleidung von den Sittenwächtern zerrissen. So ging sie augenscheinlich in aller Ruhe über den Campus.
Bei der Betrachtung des Bildes entstehen viele emotionale Fragen. Ist das Bild echt oder fake? Wie kann dies in einem Mola-Regime auf der offenen Straße passieren? In einem Land, wo das Tragen des Kopftuchs und eine islamische Körperbedeckung in der Öffentlichkeit für Frauen nach der strengen islamischen Auslegung verpflichtend ist. Nachdem sicher gestellt wird, dass das Bild echt ist, folgt ein Schockzustand. Weiß diese junge Frau, was sie da tut? Ist sie lebensmüde? Nach genauerer Erforschung der Geschichte dieser Frau kommt heraus, dass es hier sich um eine 30-jährige Studentin handelt, die Ahoo Daryaei heißt. Sie ist eine alleinerziehende Mutter (Mutter von zwei Kindern) und studiert im 7. Semester französische Literatur in Teheran. Bei dem Anblick dieses Bildes erinnert dies an die Geschichte von Rosa Park, US-Afroamerikanierin und Bürgerrechtlerin, die am 1. Dezember 1955 in Montgomery, im US-Bundesstaat Alabama festgenommen wurde, weil sie sich geweigert hatte, ihren Sitzplatz im Bus für einen weißen Fahrgast aufzugeben.
Ahoo hat wahrscheinlich aus Trotz den verurteilenden Blicken, die auf ihr hafteten diesen Protest gestartet, wissend, dass sie sich gerade in Lebensgefahr begibt. Sie wollte bewusst mit dieser Aktion ihre Würde verteidigen. Die Absicht ihrer Entkleidung war nicht ihren Körper zur Schau zu stellen, sondern zu zeigen, dass sie und ihr Körper heilig sind. Niemand darf sich erlauben, sie ihrer Autonomität zu berauben. Ob sie diese kühne Aktion überlebt oder nicht bleibt ungewiss. Ihr Handeln erntet Bewunderung und Staunen. Wie Hans-Ludwig Freese erklärt, handelt es sich beim Staunen um eine Emotion, die beim Erleben von etwas Unerwartetem auftritt und mit Verwunderung assoziiert wird (vgl. Freese, Hans-Ludwig: 2002, 17). Das Verwundertsein und das Staunen regen zum Nachdenken und Nachforschen an.
Wie wird es mit Ahoo weitergehen? Es geschieht das, was Iranerinnen seit dem Tod von Mahsa Amini fortwährend und vermehrt verstärkt passiert: Ein Auto hält neben ihnen, sie werden unter Schlägen auf den Kopf hineingezerrt. Die Studentin leide an »psychischer Labilität« und sei in einem Krankenwagen in eine spezialisierte Einrichtung gebracht worden, erklärte die iranische Botschaft in Paris am Mittwoch. (Spiegel-Online). Das heißt, dass diese Studentin in einer psychiatrischen Klinik grausamen Praktiken ausgesetzt sein könnte. (Frankfurter Rundschau)
Es kann mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass Ahoo das Opfer eines politischen Skandals geworden ist. Wie konnte diese Aufopferung verstanden werden? Für die Definition des Begriffs ‚Opfer‘ gibt es in der deutschen Sprache keine eindeutige Abgrenzung zwischen dem Opfersein und der Aufopferung. Für diesen Begriff gibt es in der englischen Sprache zwei unterschiedliche Übersetzungen: ‚victim‘ und ‚sacrifice‘. Die Bedeutung dieser beiden Begriffe unterscheidet sich jedoch grundsätzlich voneinander. Das ‚Opfer‘ im Sinne von ‚victim‘ kann beispielsweise durch einen Unfall zu Stande kommen. Das ‚Opfer‘ kann allerdings auch die sakrale oder die rituelle Darbringung von Gaben bedeuten: ‚Sacrificium‘ (vgl. Steiner, Uwe, Schödlbauer, Sakralität und Heiligkeit der Texte, Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften, Universität Hagen 2016 S.16).
René Girard, der Kulturanthropologe und Philosoph, postuliert in seinen Ausführungen, dass das versöhnende Opfer eine elementare Grundlage des Religiösen bilde und dessen Funktion das Ausklammern der gesellschaftlichen Gewalt sei. (vgl. Girard Das Heilige und die Gewalt,). Demzufolge interpretiert er die Opferung als eine maßlose Gewalt, welche zu Gegengewalt führe. (ebd.) Girard formuliert das ‚Opfergeschehen‘ wie folgt: „[E]iner muss für die anderen bezahlen“, oder anders ausgedrückt: Es sei besser, dass ein Mensch für das Volk sterbe, als das ganze Volk verderbe (vgl. Girard, Der Sündenbock, Benziger, Zürich, Düsseldorf 1988, S. 164-165)., Zusammengefasst beruhe der Opferritus auf dem Prinzip der Stellvertretung. Der Sündenbock sei das stellvertretende Opfer, welches zuerst als Opfer im Sinne von ‚victima‘auftritt und sich schließlich in der Gestalt des ‚sacrificium‘ transformiert. (vgl. Steiner, Uni Hagen 2016, S.21)
Somit ist Ahoo in dieser Konstellation als Opfer einer zufälligen, unglücklichen Situation zum Sündenbock geworden. Durch diese rituelle Darbringung hat sie sich als Opfer vom „viktimologischen zum sakrifiziellen Opfer transformiert. Ahoo ist zu einer Ikone der iranischen Frauen geworden und wird weltweit für ihren Mut gefeiert.
Herzlichen Dank für das passende Bild des Sündenbocks von Gerd Altmann auf Pixabay