Du betrachtest gerade Magnards Oper „Guercœur“ – zuletzt bleiben Freiheit, Hoffnung und Liebe

ein Beitrag von Winfried Trebitz

„Will man die Menschen daran hindern, daß sie in Freiheit handeln, so muß man sie daran hindern, zu denken, zu wollen, herzustellen, weil offenbar all diese Tätigkeiten das Handeln und damit auch Freiheit in jedem, auch dem politischen Verstande implizieren.“ (Hannah Arendt, Freiheit und Politik, in „Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I“, 1994,  S. 204)

In dieser Woche erreichte das UniWehrsEL eine Besprechung zu einer Rarität im Bereich der Opernwelt. Magnards Oper Guercœur weist nicht nur eine bemerkenswerte Entstehungsgeschichte auf, sondern verbindet auch französische und deutsche Musikstile miteinander. Deshalb sieht die Dirigentin Marie Jacquot die Oper gewissermaßen als ein Kind von Wagners Parsifal und Debussys Pelléas et Mélisande. Die Oper erzählt eine klassische Geistesgeschichte. Der Revolutionär Guercœur, man denke an die 1830er Revolution in Frankreich, ist plötzlich aus dem Leben gerissen worden. Er bittet vier Göttinnen auf die Erde zurückkehren zu dürfen. Sein Wunsch wird ihm gewährt. Herr Trebitz, der uns auch in der Oper „Das schlaue Füchslein“ seine Eindrücke vermittelt hat, lässt uns auch bei Guercœur an seinem Erleben teilhaben. Herzlichen Dank dafür!

Guercœur

Seit einiger Zeit ist zu beobachten, dass in den Konzertsälen und auf den Opernbühnen immer mehr Werke aufgeführt werden, die vergessen waren oder überhaupt erst neu entdeckt wurden. So wie beispielsweise beim Komponistinnen Festival in Frankfurt, oder die Oper Frankfurt, die immer wieder Bonbons, fernab des Mainstreams ausgräbt. Einen dieser Bonbons durfte ich am 23. Februar 2025 genießen: Die Oper Guercœur von Albéric Magnard  (1865 – 1914).

Das ist seine zweite Oper. Sie hat sich aber bis heute nicht durchgesetzt, wahrscheinlich, weil er eine vielschichtige philosophische Aussage musikalisch umgesetzt hat und eine Art literarisches Drama auf die Bühne brachte. Und uns die Geschichte vom Ende einer Demokratie erzählt. So wird eine zu Beginn des 20. Jahrhunderts komponierte Oper auf einmal brennend aktuell.

Die Handlung ist schnell erzählt.

1. Akt:

Der Ritter und demokratisch denkende Freiheitskämpfer Guercœur ist relativ jung verstorben ins Paradies der Göttin Vérité (Wahrheit) gekommen. Er kann sich darüber nicht freuen und wünscht sich wieder zurück auf die Erde zu seiner Frau Giselle, zu seinem Freund und Schüler Heurtal und vor allem zu dem Volk, welches er von der Sklaverei befreit hat und in die Freiheit führte. Bonté (die Güte) und Beauté (die Schönheit) unterstützen sein Flehen. Souffrance (das Leiden) ist der Meinung, er solle etwas kennenlernen, was er zu Lebzeiten nie hat erfahren müssen – zu leiden. Vérité stellt seinen Körper wieder her und schickt ihn ins Leben zurück.

2. Akt:

Zwei Jahre nach seinem Tod haben sich die politischen Zustände gewandelt. Die Bevölkerung ist unzufrieden, leidet Hunger, und macht mit Protesten ihrem Unmut Luft. Giselle ist eine Liebesbeziehung mit Heurtal eingegangen und lebt mit ihm zusammen in Guercœurs Haus. Giselle empfindet dem Verstorbenen Gegenüber tiefe Schuldgefühle, da sie sich ewige Liebe und Treue versprochen hatten.

Heurtal regiert das Land als Konsul. Er hält sich nicht mehr an Guercœurs Prinzipien von Freiheit und Liebe. Die Unruhe im Land will er nutzen, um als Diktator alle Macht an sich zu reißen. Das Volk leidet Hunger. Es kommt zu gewalttätigen Aufständen. Viele glauben Heurtals Versprechungen, dass eine Diktatur unter seiner Führung den Frieden wiederherstellen könne. Guercœur vergibt seiner Frau und sieht dem Treiben der Menschen eine Weile erschüttert zu. Als die Gewalttätigkeiten eskalieren, tritt er dazwischen und erinnert die Kämpfenden an seine Grundsätze. Dies bringt beide Parteien gegen ihn auf. Alle fallen über ihn her und töten ihn. Anschließend wenden sie sich wieder gegeneinander. Die Anhänger Heurtals siegen und ernennen diesen zum Diktator.

3. Akt

Als Guercœur im Paradies inmitten der Schatten erwacht, ist er außerordentlich frustriert. Sein Frust schlägt in Zynismus um. Er bittet die vier Göttinnen um Vergebung für seinen Hochmut und dankt besonders

Souffrance, die ihm die Augen geöffnet habe. Vérité verheißt ihm, dass sich eines Tages sein Traum auf der Erde erfüllen werde. Er selbst werde sein Leiden vergessen. Die vier Gottheiten wiegen ihn in den Schlaf. Sein letztes Wort lautet „Espoir“ (Hoffnung). Vérité schickt Souffrance zur Erde, um die Menschen an Guercœurs Grundsätze zu erinnern.

Der Komponist und Librettist wird in dieser unruhigen Zeit wiederentdeckt.

Er war der Sohn des Herausgebers der französischen Zeitung „LeFigaro“ und dadurch finanziell unabhängig. Er konnte kompromisslos komponieren, seine Werke selber drucken und zur Aufführung bringen. Erhielt dafür zeitlebens jedoch nur wenig Anerkennung. Dazu mag auch sein persönliches Schicksal beigetragen haben.

Als deutsche Soldaten 1914 sein Haus im Département Oise in Flammen setzten, verbrannte nicht nur Magnard selbst.

Auch seine Werke waren vernichtet, das Schicksal schien besiegelt. Nur der erste Akt war komplett erhalten, der Rest konnte von seinem Freund Guy Ropartz aus dem Klavierauszug rekonstruiert werden. Ihm und seiner Rekonstruktion der „Guercœur“-Partitur ist es zu verdanken, dass die Oper schließlich uraufgeführt werden konnte.

Die Abwahl einer Demokratie ist das eine, schockierend gegenwärtige Thema in Albéric Magnards weitgehend unbekannter Oper „Guercœur“. Das andere ist das Ende einer Liebe. Der Titelheld, ein sympathischer, freundlicher Mann, stellt allerdings klar: Das Ende einer Liebe ist sehr, sehr traurig. Die Abwahl der Demokratie hingegen ist zum Verzweifeln.  Erst 1931 gab es in Paris die Uraufführung, in Deutschland war „Guercœur“ 2019 in Osnabrück erstmals szenisch zu erleben, 2024 wurde in Straßburg eine weitere herausragende Produktion vorgestellt, die man sich in der Arte-Mediathek ansehen kann. Und der Stoff ist visionär, besonders im Hinblick auf die heutige politische Lage. Das Stück scheint in der Gegenwart angekommen zu sein.

Magnard war ein großer Wagner Bewunderer. Der mystische und lyrische Wagner zeigt sich, aber eingebettet in eine französische, romantische Klangwelt. Sie ist ein weiterer starker Beleg für die tiefe Bühnenwirksamkeit von Musik und Stoff. Ergänzt wird diese, da das Libretto nicht allzu textlastig ist, durch die wunderschönen konzertanten Verbindungen der einzelnen Teile der Oper.

„Die Menschheit muss sich ihrer Aufgabe bewusstwerden und in Liebe

und Freiheit wachsen.

Die Vermischung von Sprachen und Kulturen wird ihr Frieden bringen.

Durch Arbeit wird sie die Armut überwinden, durch Wissenschaft

den Schmerz.

Mit größtem Eifer wird sie sich um mich bemühen

und Vernunft und Glauben miteinander verbinden.

Es kommt eine neue Ära, in der Tiere und Pflanzen den Menschen

vom Hunger befreien,

sich euer erleuchtetes Bewusstsein zum Guten hin entwickelt

und euer Geist das Gesetz des Universums versteht.

Und während sich der Weltenlauf vollzieht, erkennt der Mensch sein Schicksal.

Meine Herrschaft wird schließlich euren Geist erreichen,

auch wenn er noch von Zeit und Raum begrenzt wird.

Es werden noch Tage, Jahre und Zeitalter vergehen,

bis der Mensch sich Liebe und Freiheit widmet.

Wir wollen jene ehren, die ihrer Zeit voraus sind!

Ihr Leben ist vergänglich, aber ihre Taten sind unsterblich.

Sie sollen in Frieden ruhen, von der Hoffnung in den Schlaf gewiegt.

Hoffnung!“

                                                                                               Vérité, 3. Akt

Zum Weiterdenken:

                                                                                      

Die Demokratie der Zukunft ist auf das Vorhandensein möglichst vieler engagierter, sachlich kompetenter und urteilsfähiger Menschen angewiesen – oder aber sie hat keine Zukunft (Herfried Münkler)

Danke für Image by Tabby Cat from Pixabay

                                                                                            

  • Beitrags-Kategorie:Blog
  • Beitrag zuletzt geändert am:26. Februar 2025
  • Lesedauer:12 min Lesezeit