Oper Frankfurt: Arthur Honeggers „Jeanne d’Arc au bûcher“- Faszination einer mythischen Lichtgestalt
Am 27. Juni 2025 besuchte einer unserer UniWehrsEL Leser die Aufführung von Arthur Honeggers Oratorium „Jeanne d’Arc au bûcher“ an der Oper Frankfurt. Diese eindrucksvolle Komposition, die die letzten Stunden der Jungfrau von Orleans thematisiert, ist nicht nur ein musikalisches Meisterwerk, sondern auch ein faszinierendes Beispiel für die Art und Weise, wie sich die Erzählung der Jungfrau im Laufe der Jahrhunderte verändert hat.
Liebe Leser des Seminar-Talk UniWehrsEL,
Die Anregung zu diesem Oratorium gab die russische Tänzerin Ida Rubinstein im Jahr 1934. Sie spielte die Hauptrolle der Jungfrau in einer Sprechrolle. Das Libretto verfasste der Schriftsteller und Symbolist Paul Claudel, während die Musik von dem französisch-schweizerischen Komponisten Arthur Honegger im Jahr 1935 komponiert wurde. Die konzertante Uraufführung fand 1938 in Basel statt, und in Frankreich wurde das Oratorium am 8. Mai 1939 in Orleans aufgeführt – nur wenige Monate vor dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939. Diese zeitlichen Umstände verliehen der Aufführung eine besondere Sprengkraft, da sie in einem bereits zur Hälfte besetzten Frankreich stattfand.
Dem Oratorium „Jeanne d’Arc au bûcher“ wird Debussys Kantate „La Damoiselle élue“ vorangestellt. In dieser bewegenden Komposition geht es um eine verlorene Liebe und die Hoffnung, im Himmel wieder mit der geliebten Person vereint zu werden. Diese Thematik der Sehnsucht und des Wiedersehens im Jenseits lässt sich auf die Figur der Jungfrau von Orleans übertragen, die ebenfalls mit dem Gedanken an das Leben nach dem Tod und der Erlösung konfrontiert ist. So wie die Protagonistin in Debussys Werk auf die Rückkehr ihrer verlorenen Liebe hofft, strebt auch Jeanne d’Arc nach einer Verbindung mit dem Heiligen und dem Göttlichen.
Die Aufführungen des Oratoriums, insbesondere in der Zeit kurz vor dem Zweiten Weltkrieg, lösten beim Publikum eine Vielzahl von Emotionen aus. Die dramatische Darstellung von Jeanne d’Arc, die für ihre Überzeugungen kämpft und letztlich für ihre Ideale stirbt, berührte die Zuschauer tief. Die Jungfrau löst intensive Emotionen aus, wie die Sehnsucht nach Befreiung vom Bösen. Das Böse scheint über eine hilflose Gesellschaft hereinzubrechen, und die Parallelen zwischen den Engländern, die Frankreich während des Hundertjährigen Krieges besetzten, und den Nazis, die zur Aufführungszeit Frankreich besetzten, sind unübersehbar.
So gesehen wird die Jungfrau zu einem Rollenmodell, ähnlich wie Batman in Christopher Nolans „The Dark Knight„. Beide Figuren verkörpern die Weiterschreibung eines Grundgedankens von einem Retter zur richtigen Zeit. Jeanne d’Arc und Batman stehen für den unermüdlichen Kampf gegen das (vermeintliche) Unrecht und die Hoffnung auf eine bessere Welt. Während Jeanne d’Arc für ihr Volk ein Licht in der Dunkelheit war, ist Batman der Beschützer von Gotham City und das Aufrechterhalten der Ordnung.
Die Figur der Jeanne d’Arc, die im 15. Jahrhundert lebte und während des Hundertjährigen Krieges eine entscheidende Rolle spielte, hat sich zu einem Symbol für den Nationalstolz der Franzosen entwickelt. Im 19. Jahrhundert wurde sie zum Inbegriff des französischen Selbstbewusstseins und zur Ikone, die über Grenzen, Nationen und Epochen hinweg strahlt. Diese Transformation macht die Jungfrau zu einer faszinierenden Persönlichkeit, deren Mythos bis heute lebendig ist.
Mit seinem 1801 erschienenen und uraufgeführten Drama ‚Die Jungfrau von Orleans‘ hatte Friedrich Schiller zu seinen Lebzeiten großen Erfolg. Die Erzählung von Jeanne d’Arc ist nicht nur eine historische, sondern auch eine kulturelle und mythologische. Sie hat sich in Literatur, Kunst und Musik manifestiert und wird oft von Urban Legends und Verschwörungsmythen umgeben. Diese Mythen, die sich um ihre Person ranken, reflektieren den Zeitgeist und die gesellschaftlichen Strömungen der jeweiligen Epochen. Die Frage, wofür die Figur der Jungfrau steht, ist komplex und vielschichtig. Sie symbolisiert nicht nur den Kampf für Gerechtigkeit und Freiheit, sondern auch die Herausforderungen und Ängste, die mit nationaler Identität und dem Streben nach Unabhängigkeit verbunden sind.
Regisseur Alex Olle hat sich mit diesen Themen auseinandergesetzt und die zeitgenössische Relevanz von Honeggers Oratorium in den Mittelpunkt seiner Inszenierung gerückt. Die Aufführung an der Oper Frankfurt bot nicht nur eine musikalische Darbietung, sondern auch eine kritische Reflexion über die Mythen, die sich um Jeanne d’Arc gebildet haben. In einer Zeit, in der Urban Legends und Verschwörungsmythen oft die Wahrnehmung der Realität beeinflussen, stellt sich die Frage, wie der Zuschauer historische Figuren und deren Geschichten interpretieren und welche Bedeutung sie für die Gesellschaft heute haben.
Umberto Eco äußerte in den frühen 1970er Jahren die Überlegung, dass eine Rückkehr zu den Strukturen des Mittelalters denkbar sei. Diese Idee gründete sich auf der Annahme, dass die technischen Systeme unserer Zeit so groß und komplex geworden sind, dass sie von einer zentralen Führungsinstanz nicht mehr kontrolliert und effizient gesteuert werden können. Heute erscheint ein Rückfall ins Mittelalter ebenfalls vorstellbar, jedoch aus anderen Gründen. Faktoren wie Terrorismus, der Klimawandel, das Wiederaufflammen des Kalten Krieges und unkontrollierte Finanzmärkte tragen zu einem Gefühl der Unsicherheit und Instabilität bei. Aus der Perspektive des Regisseurs wird deutlich, dass diese Herausforderungen eine Rückbesinnung auf einfachere, dezentralisierte Strukturen und Gemeinschaften fördern könnten, die in der Lage sind, sich den aktuellen Krisen anzupassen und resilienter zu agieren. Die Komplexität der modernen Welt könnte somit paradoxerweise den Wunsch nach einer Rückkehr zu den Werten und Lebensweisen des Mittelalters hervorrufen.
Das Böse oder die Natur des Bösen könnte nach Ansicht des Regisseurs in verschiedenen Formen auftreten, darunter Gier auf den Finanzmärkten, neu angefachter Fanatismus jeglicher Art, reaktionäre Bewegungen und aufgestauter Hass. Aus diesem Grund verlegt Ole die Handlung in eine moderne Interpretation des Mittelalters. Das Volk wird als ebenso schmutzig und verwahrlost dargestellt wie im historischen Mittelalter.
Der Richter, der die Jungfrau verurteilt, wird als Schwein in einer Schubkarre inszeniert, ein Symbol, das der Komponist bewusst gewählt hat. Die Justiz und der Schreiber werden als Schafe dargestellt, was eine bewusste Entmenschlichung dieser bösartigen Figuren zur Folge hat. Diese Darstellung hat eine tiefgreifende psychologische Wirkung auf das Publikum. (Tiere, die bestimmte menschliche Eigenschaften charakterisieren findet sich auch in der „Animal farm„). Indem die Figuren des Bösen in tierischen und entmenschlichten Formen präsentiert werden, wird ihre Grausamkeit und Unmenschlichkeit verstärkt. Das Publikum wird dazu angeregt, sich emotional von diesen Charakteren zu distanzieren und die Jungfrau von Orleans als Lichtgestalt zu betrachten, die sich von der Masse abhebt. Diese klare Trennung zwischen Gut und Böse schafft eine starke Identifikation mit der Jungfrau, die für Gerechtigkeit und Freiheit kämpft.
Darüber hinaus wird die Erzählung sowohl von rechter als auch von linker Seite versucht, für eigene Zwecke vereinnahmt zu werden. Diese politische Instrumentalisierung zeigt, wie die Figur der Jungfrau von Orleans in verschiedenen ideologischen Kontexten interpretiert werden kann. Psychologisch betrachtet führt dies zu einer Polarisierung der Wahrnehmung: Die Jungfrau wird zum Symbol für den Widerstand gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit, während die entmenschlichten Figuren des Bösen als Feinde der Freiheit und der Menschlichkeit wahrgenommen werden. Diese Dynamik verstärkt die emotionale Resonanz der Aufführung und lässt das Publikum über die zeitlosen Themen von Gerechtigkeit, Macht und Moral nachdenken. Deshalb ist die Jungfrau als Symbol für den Kampf gegen das Böse eine Urban Legend. Sie ist Inspirationsquelle als auch als Projektionsfläche für Ängste und Hoffnungen gleichermaßen.
Danke für den interessanten Leserbrief und Image by Ben Kerckx from Pixabay
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