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Jede Zeit und jede Gesellschaft haben ihre Tabus. Gegen diese Zeit und die gesellschaftlichen Tabus anzuschreiben, ist eine Aufgabe, der sich der Norweger Henrik Ibsen verschrieben hat. In seinen Dramen des späten 19. Jahrhunderts stößt er sowohl geltende gesellschaftliche, als auch geltende Regeln für Dramen komplett um. Sein Genre ist das Alltagsleben der Spießbürger, gegen deren Moral und Lebenslügen er mit spitzer Feder ins Feld zieht. Bekannt ist „Nora“, die wir im Kontext des Schweigens kennengelernt haben. Sie verlässt ihr „Puppenheim“ 1879 und lässt ihren Mann Torvald mit den drei Kindern zurück. Auch an seinem Stück „Gespenster“ von 1881 scheiden sich die Geister. Ibsen bricht zahlreiche Tabus wie etwa Inzest, freie Liebe, Kritik an der Kirche und Sterbehilfe. Den skandalösen Dramenstoff kann man jetzt auch als Oper in Meiningen erleben. Unser Kulturbotschafter des UniWehrsEL war für Sie vor Ort. Herzlichen Dank dafür!

Liebes UniWehrsEL,

als Henrik Ibsen das Werk „Gespenster“ am 11. Dezember in Kopenhagen erstmals veröffentlichte, war die Aufregung groß. Eine unglückliche Familiengeschichte ist die Grundlage für „Gespenster“. Kurz zum Inhalt: „Zur Einweihung eines Kinderheims, das nach dem Wunsch seiner Witwe den Namen des hochangesehenen Kammerherrn und Hauptmanns Alving tragen soll, treffen sich im Haus am Fjord: Helene Alving, die Witwe, der in Paris als Maler lebende Sohn Osvald, Pastor Manders und Regine, das Dienstmädchen, und mit ihnen halten die »Gespenster« der Vergangenheit Einzug; die Fassade der bürgerlichen Familie bricht zusammen: Helenes Lebenslüge kommt ans Licht, mit der sie jahrelang die Ausschweifungen ihres Mannes gedeckt hat, und sie erkennt, dass sie trotz Selbstlosigkeit und Pflichterfüllung ihren Sohn nicht vor dem Einfluss ihres Mannes schützen konnte. Osvald hat Syphilis wie der Vater. Verzweifeln lässt ihn aber, dass Regine, die er liebt, seine Halbschwester ist, die uneheliche Tochter des Vaters. Manders begreift seinen Fehler, Helene damals feige und selbstgerecht zurück in die Arme des Hauptmanns getrieben zu haben. Sinnbildlich für den Zusammenbruch brennt das Kinderheim nieder, das das Familien-Renommee untermauern sollte. Helenes Widerstand gegen Pflichten, Normen und eine falsche Moral kommt zu spät.“

Henrik Ibsens Skandalstück „Gespenster“ hatte 1886 am Meininger Hoftheater die erste öffentliche Aufführung in Deutschland erlebt. Jetzt wurde die Geschichte als erste Oper des Norwegers Torstein Aagaard-Nilsens am selben Ort aufgeführt. Was unterscheidet nun die Oper vom Bühnenwerk? Das Kinderheim ist unwesentlich, auch die vom Vater auf den Sohn Osvald übertragene Syphilis.

Der Titel Gespenster ist für uns auch heute noch verwirrend. Wir denken dabei an Gespenster wie Halloween Monster. Ibsen meint damit aber Erinnerungen und Erfahrungen aus der Vergangenheit. Wie bewältigen Menschen diese Gespenster? Sie sind nicht greifbar. Es geht um verpasste Lebenschancen.

So ist die Oper von Meiningen umgedeutet worden. Im Mittelpunkt der Oper steht Helene. Sie trauert um ihren Partner. Der Beginn der Oper, anders als das Schauspiel, spielt auf der Beerdigung des Partners. Mit der Trauer kommen die Gespenster zurück, also Erinnerungen. Helene ist dem Partner fremd gegangen und glaubt den Sohn mit dem „One-Night-Stand“ gezeugt zu haben. Der Partner war aus Sicht von Helene nur auf die Karriere konzentriert, nicht auf die Partnerschaft. Der Sohn geht aus Sicht der Mutter einen ähnlichen Weg. Der Sohn hat eine Geliebte, wie der Vater. Helene erfindet in der Auseinandersetzung mit dem Sohn, dass seine Geliebte seine eigene Schwester sei. Die Geliebte will nun den Sohn verlassen. Der Sohn will mit der Mutter gemeinsam Selbstmord begehen. So endet die Oper vom Text her.

Die Regie konnte den Selbstmord von Mutter und Sohn nicht ertragen und hat den Schluss szenisch umgedeutet. Sohn und Geliebte verlassen die Mutter. Das zeigt wie sehr das Thema Selbstmord auch heute noch mit einem Tabu belegt ist. Der verstorbene Vater lässt in der Ibsen Fassung seinen Sohn rauchen und saufen als Mannwerdung. Das fand die Dramaturgie von heute so furchtbar, dass diese Szene aus der Oper gestrichen wurde.

Musikalisch hätten Ihnen die Jazzelemente gefallen. Aus Donizettis Lucia di Lammermoor wurde die Glasharmonika bzw. der Klang von Glas übernommen, für die Gespenster. Das sorgt für gruselige Momente, auch ohne Gespenster, denn es geht ja auch um Familiengeheimnisse.

Mein Fazit: So ein richtig gutes Drama ist Gespenster nicht, weil einfach zu viele Geheimnisse vorkommen. Das erinnert fast an Mozarts „Figaros Hochzeit“, wo auch ständig neue Wendungen geschehen. Drama und Komödie liegen da doch nahe beieinander. Ich hätte es mir ein bisschen strukturierte gewünscht.

Warum das Stück lange Zeit in Teilen Europas verboten war und wie Ibsen die Verstrickungen seiner Protagonisten nach und nach meisterhaft aufdeckt, ist eine Geschichte, die andere ist die, wie die Meininger Gesellschaft mit dem Stück umging.

Ibsen war bei den „Gespenstern“ so gesellschaftlich isoliert, dass freiwillig in Meiningen niemand sich die Aufführung ansehen wollte. Deshalb gab der Landesherr von Thüringen bei seinen Bediensteten die Anweisung aus, sich das Stück anzusehen, weil keine Karten für die Premiere von „Gespenster“ verkauft worden waren. Die Karten wurden also verschenkt an den Hof. Ibsen wurde zur Premiere eingeladen, und er bekam sogar einen Orden für das Stück verliehen.

Die Weltpremiere von „Gespenster“ fand in Chicago statt. In Europa war das Stück verboten. Preußen ließ nur ein Gastspiel einmal zu. Das Meininger Theater durfte die Gespenster in Berlin nicht aufführen. Bei „Nora“ war der Skandal, dass sie sich von ihrer Familie trennen will.  Die „Gespenster“ sind das Nachfolgewerk. Da Nora bei der Aufführung einen Skandal auslöste wollten die Preußen einen neuen Skandal mit dem Verbot vermeiden. Der Thüringer Landesherr Georg II wollte mit der Aufführung seinerseits aufzeigen, wie fortschrittlich er ist, und dass er mit dieser Form gesellschaftlicher Kritik umgehen kann.

Nach den Gespenstern kam dann „Ein Volksfeind“, ein Skandal um einen Badeort, der seinen Gesundheitsaufseher entlässt und zum Volksfeind erklärt, weil er Wasser testen lässt und das Quellwasser als schädlich einstuft.

Und dann hätte ich noch einen Ibsen-Tipp für Sie: bei den Burgfestspielen in Dreieichenhain im Sommer 2024 wird auch ein Stück von Ibsen gespielt. „Peer Gynt“ ist Schwindler und Aufschneider, treibt sich in Norwegen, im Reich der Trolle, in Marokko und in Ägypten herum. Auf der Suche nach Ruhm und Reichtum und nach seiner Bestimmung jagt er Mädchen und dubiosen Geschäften nach. Erst in der Liebe einer Frau, die in Norwegen auf ihn wartet, findet er schließlich Verzeihung und Erlösung. Es ist ein Feenmärchen, das hervorragend zu unserem Seminar „Flanieren durch den Märchenwald“ im Sommer 24 passen wird.

„Peer Gynt“ von Ibsen führt zur wunderbaren Musik von Edvard Grieg, die ich zur Freude der UniWehrsEL-Leser gleichzeitig und mit besten Grüßen ins Gedächtnis rufen möchte.

Herzlichen Dank für die Statue von Henrik Ibsen bei PulicDomainPictures auf Pixabay!

  • Beitrags-Kategorie:Blog
  • Beitrag zuletzt geändert am:4. März 2024
  • Lesedauer:8 min Lesezeit