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Ein Kind verstummt aus sozialen Gründen. Ihm fehlt das, was Kinder unbedingt brauchen: Liebe und Urvertrauen, Wohlwollen und Beschützen, Fehler verzeihen können, Versprechen halten. Was geschieht, wenn dies fehlt?  Plötzlich verstummen Kinder im Kindergarten, in der Schule und sogar im eigenen Elternhaus, obwohl sie reden und hören können. Es geht weniger um eine Sprachstörung, als um eine Sprechhemmung: Mutismus bei Kindern. Im Film „The Quiet Girl“, einem irischen Drama aus dem Jahr 2022 kann man dies nachvollziehen. Als Zuschauer kann man begreifen, was es heißt, wenn ein 9-jähriges kleines Mädchen bei entfernten Verwandten in Irland zum ersten Mal Herzlichkeit und Fürsorge erfährt. Sie wird in ihrer selbst gewählten Stille so angenommen, wie sie (geworden) ist.  

Der Film spielt im Jahr 1981. In einer irischen Familie wächst die kleine Cáit in armen, desolaten Familienverhältnissen auf. Die älteren drei Schwestern zanken sich lautstark, die Mutter ist erneut schwanger und völlig überfordert, der Vater flüchtet sich in die Kneipe. Cáit wird als überflüssiger Esser vom Vater betrachtet, der ihr keine Gefühle entgegenbringen kann. Er packt das kleine Mädchen ins Auto und fährt sie zu Eibhlín, einer Cousine ihrer Mutter, und deren Mann Seán. Er setzt sie ab, nicht ohne darauf hinzuweisen, sie könne ja ihren Aufenthalt abarbeiten und fährt ohne ihren Koffer auszuladen wieder fort. Cáit wird von Anfang an von Eibhlín freundlich aufgenommen. Sie erlebt nicht nur eine Umgebung, in der ein gewisser Wohlstand herrscht, sondern erlebt zum ersten Mal, dass sich jemand um sie kümmert, ihr Aufmerksamkeit erweist, sich für sie interessiert. Beispielhaft steht dafür die Wärme des Badewassers, das extra für sie von Eibhlin bereitet wird, liebevoll eingeseift, gestreichelt, gewaschen werden, ist Neuland. Sie bleibt scheu und still, an ihrer Mimik bemerkt man aber, wie sie beginnt langsam in dieser neuen Umgebung aufzublühen.   

Bisher hat sich eigentlich Keiner dafür interessiert, was sie vielleicht zu sagen hätte. Sie ist voller Scham und Unsicherheit, denn ihre Versuche in der Schule vorzulesen, sind einfach daran gescheitert, kaum einen Satz fehlerfrei heraus zu bringen. Auch der anfänglich bärbeißig auftretende Pflegevater, ein hart arbeitender Farmer, entwickelt im Laufe der Geschichte eine enge Beziehung zu dem kleinen schweigenden Mädchen. Er beschützt sie, verteidigt sie sogar gegen andere Dorfbewohner, denen das Schweigen des Kindes auffällt, und erkennt sie mit den Worten an: „Sie sagt so viel, wie nötig ist“. Kleine Liebesbeweise, wie ein beiläufig hingelegter Keks, sagen mehr als viele Worte. Er lobt sie, weil sie so schnell wie der Wind rennen kann, wenn es darum geht, die Allee entlang zum Postkasten und zurück zu Séan zu laufen. Das sind großartige Bilder, die keiner Worte bedürfen.

Obwohl Eibhlín der Ziehtochter erklärt, dies sein kein Haus der Geheimnisse, denn diese würden auch immer Schande bedeuten, und dies sei kein Haus der Schande, wird dann doch ein schreckliches Geheimnis offenbar. Das erklärt auch die Schwere und Stille, die auf dem gepflegten Landhaus mit dieser wundervollen Allee mit den üppig-grünen Bäumen lastet. Und da ist auch noch die kleine geheime Wasserstelle im Wald, zu der Pflegemama und Kind täglich gehen, um Wasser zu holen.

Cáit lernt und erlebt mit der Pflegemama zu kochen, mit dem Pflegepapa die Melkstatt zu reinigen, sie trägt saubere Knabenkleidung und bekommt schließlich auch ein eigenes Kleid mit einem bunten Poncho darüber. Sie fühlt sich stolz, glücklich und angenommen. Bis sie gemeinsam mit ihren Pflegeeltern zu einer Beerdigung geht und von einer unangenehmen Dorfbewohnerin erfahren muss, wem die Kleidung gehört, die ihr Eibhlín gegeben hat. Eibhlin und Seán hatten einen Sohn, der ertrunken ist.

Es ist einfach nur traurig anzusehen, der Augenblick als Cáit von ihrer Mutter einen Brief erhält. Sie muss zurück zu ihren Eltern, die Schule beginnt, der kleine Bruder ist da. Kurzzeitig hofft der Kinobesucher mit dem kleinen Mädchen, sie könne bleiben, aber die Abreise verzögert sich nur. Cáit läuft zur Wasserstelle im Wald. Es kommt Angst auf, sie könne das gleiche Schicksal ereilen wie den Sohn der Pflegeeltern, aber sie trägt nur eine Erkältung davon, die sie noch auskurieren darf.

Dann fahren die Pflegeeltern sie zurück in ihr trostloses Zuhause, wo die Geschwister sich wieder streiten, das Baby schreit, der Vater aus der Kneipe kommt, die Mutter völlig erschöpft ist. Cáit kehrt in ihr Schweigen zurück, bis die Pflegeeltern sich verabschieden. Sie läuft hinter ihnen her, ihr Vater folgt ihr langsam und sie springt dem stillen Sean in die Arme, und ruft „Daddy“. Das Ende bleibt offen …

The Quiet Girl“ ist ein stiller Film. Eine „Coming-of-age-Geschichte“, wie wir sie schon einmal unter dem Stichwort der „Euphancholie“ beschrieben haben, eine Geschichte über Einsamkeit, kurzes Glück und Sprachlosigkeit, die die Hauptfiguren auszeichnet. Auch hier geht es um das beinahe Zerreißen vor Glück, in Augenblicken der Geborgenheit, aber auch um das gleichzeitige Gefühl, alles wieder zu verlieren, wenn die kurzen Augenblicke vorbei sind. Es ist ein großartiger langsamer und bewegender Film, der den Kinobesucher ein wenig ratlos zurücklässt. Kann Cáith etwas aus den glücklichen Momenten im Herzen behalten, wenn sie wieder in ihre desolate Umgebung zurückmuss? Oder verfällt sie wieder ins Schweigen? Werden die Pflegeeltern sich wieder dem Schmerz und Verlust ergeben, oder bleibt ein wenig des Wagemutes, das Leben wieder erneut gemeinsam zu umarmen?

Danke für das Bild vom traurigen Mädchen auf Pixabay! Über einen Kommentar zu unserem Beitrag würde ich mich freuen!