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Sie ist noch da. Das spürt Sam sofort an der Atmosphäre im Haus. Diese plötzliche Stille präsentiert sich manchmal ganz neutral, scheinbar grundlos und dann wieder ganz greifbar.

Da ist dann das brütende Schweigen von Sams Vater. Das hört Sam selbst oben in seinem Zimmer. Sam ist 15 und erlebt einen Sommer in seinem Heimatort, einer Kleinstadt in Missouri, im Jahr 1985. In diesem Sommer verändert sich in seinem Leben alles. Unten sitzt Sams Vater, dem er sich eigentlich nie wirklich nahe gefühlt hat, wie so oft vorm Fernseher. Der läuft ohne Ton und mit den ständigen Wiederholungen von Sendungen wie „Ein Colt für alle Fälle“. Seit Moms Krankheit und Vaters Arbeitslosigkeit scheint es in diesem Haus keine Worte mehr zu geben.

Sam hat Ferien, und die in diesem schweigenden Haus zu verbringen, erscheint ihm unerträglich. Er fühlt sich als Außenseiter und ganz und gar alleine. Auch draußen ist das nicht anders. Geld hat er keins, so ist er auch nur ungebetener Zuschauer im ‚Replay Arcade‘, der Spielhölle in der Mall.

Mit 15 lastet das Wissen um das Erwachsenwerden und die ungewisse Zukunft genauso auf ihm, wie das ungeschriebene Gesetz der Orte, an denen er noch nichts zu suchen hat. Und dann gibt es noch die Menschen, die es auf ‚Looser‘ wie Sam abgesehen haben wie sein Peiniger Chuck Bannister. In Sam ist in diesen einsamen Momenten ein dunkles Summen, ein beklemmendes Geräusch im Kopf, das nie vergehen will.

An diesem Tag aber geschieht etwas, das sein Leben von nun an gründlich verändern wird. Vor dem „uralten Kabuff für Rentner“, dem einzigen Kino am Ort, das Ende des Jahres schließen wird, hängt der Zettel „Metropolis. Aushilfe gesucht“. Und dann stehen an der Kinokasse noch zwei Jungen und das lachende blonde Mädchen, sie werden in seinem Leben eine große Rolle spielen.

In dem Roman „Hard Land“ von Benedikt Wells zeigen sich alle Facetten des Erwachsenenwerdens. Es geht um einen, der 16 wird, der seine Jugend als ‚hartes Land‘ empfindet und langsam aus der Stille auftaucht. In diesem Sommer, indem er sich verliebt und seine Mutter stirbt, zeigen sich alle Facetten des Lebens; das große Leid um das Sterben der todkranken Mutter, der Zwist mit dem untröstlichen Vater. Dann geht es aber auch um das Erwachen, um Liebe und Sexualität, die „weltlichen Waffen gegen das Älterwerden und den Tod“.

Euphancholie ist das, was Sam in diesem Jahr empfindet, das Zerreißen vor Glück und das Gefühl der Euphorie, und gleichzeitig das Gefühl alles zu verlieren, weil die besten Augenblicke bald vorbei sein werden.

Diese Melancholie, die dann eintritt, wenn man aus seinen Glücksgefühlen wieder auftaucht und für die es keine passenden Worte zu geben scheint.

Dieser Coming-of-Age Roman ist fesselnd von Benedict Wells, dem Erfolgsautor von „Vom Ende der Einsamkeit“ geschrieben worden. Wells spielt dabei gerne mit berühmten ersten Sätzen bekannter Literatur und erinnert spontan an Salingers „Fänger im Roggen“.  

Wells selbst erklärt im Interview dazu, der Anfang aus Hard Land dagegen sei „eine bewusste Variation von Charles Simmonsʼ erstem Satz aus „Salzwasser“. So beginnt Hard Land mit: »In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb.«  


Simmons Roman beginnt sehr ähnlich mit: ”Im Sommer 1963 verliebte ich mich, und mein Vater ertrank.” Es ist ebenfalls eine Erzählung über einen Sommer, an dessen Ende nichts mehr so ist wie zuvor und auch hier dreht sich die Geschichte um einen 15jährigen, um erwachende Liebe und große Enttäuschungen.

Der Sommer, nach dem alles anders war, kann metaphorisch aber auch als ein Beginn einer Zeit verstanden werden, in der die große Einsamkeit und die Euphancholie für viele Menschen erst beginnt.

Großes Interview zu Benedikt Wells

  • Beitrags-Kategorie:Blog
  • Beitrag zuletzt geändert am:29. Januar 2022
  • Lesedauer:5 min Lesezeit