Du betrachtest gerade Teil I: Sehnsucht nach Heimat – ein Beitrag von Nahid Ensafpour

Es ist schon ein besonderes Vergnügen, an der U3L unterrichten zu dürfen. Gerade dann, wenn es gelingt, in einem Seminar zur Sehnsucht so engagierte und hervorragend recherchierte Referate präsentiert zu bekommen. In ihrem Seminarvortrag spannt Nahid Ensafpour (auch im UniWehrsEL ihr Beitrag über Sündenböcke) den Bogen über den Heimatbegriff der Gebrüder Grimm bis zum Heimweh nach einem Zuhause, in das man nicht zurückkehren kann; ein Zuhause, das es vielleicht nie gab; Nostalgie, Sehnsucht, Trauer um die verlorenen Orte der Vergangenheit. Herzlichen Dank, liebe Nahid, dass Du uns diesen Beitrag hier im UniWehrsEL zur Verfügung gestellt hast und der in einem Teil II fortgesetzt wird.

Im Jahre 1877 brachten erstmals die Schriftsteller Gebrüder Grimm den Begriff Heimat mit einer emotionalen Bindung zu einer Gegend in Zusammenhang. Heute ist der Begriff vielfach interpretierbar. Jedenfalls verweist das Wort primär auf eine emotionale Bindung zwischen Menschen, Raum und Ort hin. Das kann sich auf sein eigenes Zuhause, eine Stadt, einen Stadtteil, ein Dorf, eine Gegend, eine Nation, ein Land, eine Sprache oder auch auf eine Religion beziehen. Aber mit dem Begriff können nicht nur konkrete Orte, sondern auch reale oder vorgestellte Objekte und Menschen in Verbindung gebracht werden. (RICHARD KEHL)

über Heimat zu sprechen, heißt häufig über ihren Verlust zu reden. Die Sehnsucht nach heimatlicher Zugehörigkeit tritt ein, wenn man sie gerade zu verlieren scheint oder bereits verloren zu haben glaubt. «Heimatverlust» bewirkt einen Phantomschmerz, meist bleibt er unerlöst. Laut Ivars Ijabs ist Heimat eine imaginäre Theorie, in der Topografie und Geografie nur der Hintergrund der geistigen und emotionalen Erfahrung des Menschen sind. Es ist ein Bereich der Realität, wo unser Leben in einer imaginären räumlichen Form erstarrt ist. Ein Ort, wo man ohne Erklärungen unsere Sprache und uns selbst versteht, wo alles echter und authentischer, und irgendwie grundlegend „richtiger“ ist als anderswo. Daher sei Heimat der unsichtbare Startpunkt, der es uns erlaubt, uns in die weitere Welt zu begeben. Genau diese anscheinend natürliche Verbindung mit einem Gebiet macht uns einzigartig und befähigt uns somit zu einer vollwertigen Interaktion. Nicht umsonst fragen wir Fremde zuerst, wo sie denn „herkommen“. Sehnsucht nach Heimat kann man als Heimweh bezeichnen, nach einem Zuhause, das es vielleicht nie gab; Nostalgie, Sehnsucht, Trauer um die verlorenen Orte der Vergangenheit.

Was ist Heimat – Geruch, Erinnerung, Idee, Klischee? Heimat – ein kleines Wort mit vielen Bedeutungen, vom Vertrieben sein bis hin zur nostalgischen Erinnerung. Ein Wort, dessen Erscheinen fast unweigerlich ein politisches Statement ergibt, Begriffsgeschichte und aktuelle Relevanz. Hass und Wut auf der einen, Melancholie auf der anderen Seite. „Heimat“ bezeichnet oft einen Ort, jedoch auch soziale, kulturelle oder zeitliche Kontexte können gemeint sein. In jedem Fall steht etwas die Psyche dauerhaft Prägendes dahinter. Seinen Ursprung findet der Begriff im indogermanischen Wort „kei“ = „liegen“. Lange wird er ausschließlich in geografischem Kontext verwendet (vgl. SIVAN BERSHAN.)

Heimat als ein Konzept erläutert Jens Jäger in Docupedia Zeitgeschichte als ein Wort, welches auf das deutsche Sprachgebiet beschränkt ist und sich in je unterschiedlicher Schreibweise in mittel-, alt- und mittelniederdeutschen Sprachquellen findet. Der Bedeutungsgehalt lässt sich in etwa mit „Stammsitz” eingrenzen. Es steht in unmittelbarer Beziehung zu dem Wort „heim”, das Wohnort, Haus bezeichnet. Ferner bezeichnet es auch einen rechtlichen Status, der mit dem Begriff „Heimatrecht” verbunden ist und sich auf Ansässigkeitsrechte bezieht, erworben durch Geburt, Ansässigkeit oder Heirat, und auch die gemeindliche Verpflichtung auf Fürsorgeleistungen einschließt. In deutschsprachigen Lexika findet sich das Lemma „Heimath” beispielsweise 1781 in Krünitz‘ „Oekonomischer Encyklopädie”; dort als „Ort, das Land, wo jemand daheim ist, d. i. sein Geburtsort, sein Vaterland”, definiert (vgl. Jens Jäger).

Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah? Menschen, die in der Fremde ihr Glück versuchen, werden oft mit dem Gefühl des Heimwehs konfrontiert. Was hat es eigentlich damit auf sich?

Unter Heimweh wird in erster Linie die emotionale Bindung eines Menschen zu seiner Heimat verstanden, von der er momentan abwesend ist. Es ist das Gefühl und die Sehnsucht in der Fremde, wieder daheim sein zu wollen. Viele Künstler verarbeiten dieses Gefühl in ihren Werken, sei es in Musik, Texten oder Bildern. Aus dem Begriff Heimweh entstand auch das Kunstwort Fernweh. Im Gegensatz zu Heimweh beinhaltet das Fernweh die Sehnsucht nach fremden Ländern, Abenteuern, Sitten, Bräuchen und Kulturen. Heutzutage wird der Begriff Fernweh oft mit der Sehnsucht nach Urlaub in Verbindung gebracht, aber auch nach Veränderung, Flucht aus dem Hier und Jetzt. (VON RICHARD KEHL) 

Sehnsucht nach Heimat definiert Werner Schneider-Quindeau in kirche im hr. „Heimat hat viele Gesichter und Bilder. Zu allen Zeiten wünschen sich die Menschen ein Zuhause, wo sie behütet und geschützt und anerkannt sind. Heimat bekommt sein Gesicht durch die Orte und Menschen, wo sie Kinder gewesen sind.“ … „Denn keine irdische Heimat ist das Paradies. Die Frage, die Gott an den Menschen nach der Vertreibung aus dem Paradies gestellt hat, holt ihn immer wieder ein: Wo bist du, Adam? Wo ist dein Zuhause? Heimat stellt die Frage nach dem guten Leben. Was ich wünsche und träume, an was ich mich erinnere und was mich enttäuscht hat, gehört ins Bild von Heimat. Sie ist ein Ort, nach dem sich die Menschen sehnen, weil sie sich an ihm angesichts ihrer Grenzen, ihrer Schwächen und Schmerzen angenommen und getragen wissen“.“ … „Weltweit wächst die Suche nach Heimat. Sie ist in den Flüchtlingen lebendig. Sie ist lebendig bei den Einsamen der Städte. Oder bei Minderheiten, die ausgegrenzt und diskriminiert werden. Wo findet die Sehnsucht nach Heimat ein Vertrauen? Ein Vertrauen, das die Trauer über verlorene Heimat teilt und die Hoffnung auf eine andere Heimat weckt?“

Quindeau erläutert, auch in der Bibel gäbe es viele Auslegungen von der Heimat. „Von Heimat, auf die man hofft. Von Heimat, die man verloren hat. Zwischen Paradies und himmlischem Jerusalem sind die Menschen in den biblischen Geschichten unterwegs“ … „Jesus selbst hat seinen Heimatort Nazareth verlassen, um als „Wanderprediger“ umherzuziehen und Menschen für seine Botschaft vom nahen Gottesreich zu gewinnen. Seine Jüngerinnen und Jünger sind ebenfalls nicht zu Hause geblieben, sondern haben Jesus auf seiner Wanderschaft begleitet. Das deutlichste Zeichen für die Heimatlosigkeit Jesu ist sein Kreuz auf Golgatha.“ … „Es gibt den Blick nach vorn. Wenn Zukunft Heimat sein soll, das ist eine ideale Zukunft, in der das Leben gelingt. Von dieser utopischen Gestalt von Heimat hat der Philosoph Ernst Bloch in seiner Philosophie gesprochen. Am Ende seines Hauptwerks „Das Prinzip Hoffnung“ entwirft er eine Zukunft, in der der Mensch selbstbestimmt und ohne Zwang leben wird.“

Heimat und Philosophie

Schon in dem Werk „Geist der Utopie“ von 1918 widmet sich der Philosoph Ernst Bloch der Perspektive einer humanen Gesellschaft. Bloch hat Heimat als etwas definiert, »das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war.« Das heißt, dass Heimat immer utopisch ist, immer ein Zustand von Verklärung, nie von Realität. Aber wir glauben uns doch an den Geschmack von Speisen zu erinnern, an den Geruch bestimmter Räume, die wir mit Heimat verbinden, an Geräusche.“ Man denke nur an die Sprache. Viele Menschen fühlen sich in der Sprache »daheim«. Der Dialekt geht verloren, nachdem die Heimat verloren gegangen ist, nachdem die Menschen gegangen sind, die sich darin zu Hause fühlten. Für die Späteren kann es keine Sprachheimat mehr sein. Wir können die Phänomene Heimat und Altern hier nicht endgültig klären. Aber Wilhelm Schmid liefert uns in seinem Buch noch einen wesentlichen Denkanstoß: »Unmerklich entsteht ein Heimatgefühl in der Zeitspanne zwischen Geburt und Tod.
Der Philosoph und Kulturwissenschaftler Christian Schüle spricht von der „Ambivalenz der Heimat“ und schreibt, eie große Kraft der Heimat bestehe in der Ambivalenz-Bewältigung. „Die spätmoderne Lebenswelt ist bekanntlich gekennzeichnet durch einen hohen Grad an Paradoxien, und diese Widersprüchlichkeiten des zeitgenössischen Lebens permanent auszutarieren kann belastend, überlastend, manchmal überfordernd sein. Der Einzelne soll ja permanent wählen, dauernd entscheiden und jederzeit alle an ihn gestellten Anforderungen zugleich erfüllen: kontrolliert und charismatisch zu sein, emphatisch und empathisch, diszipliniert und witzig. Heimat als zeitlebens emotional abrufbare Gegenwart aber ist ein fundamentales Versprechen auf naturgemäß gegebene Kohärenz: auf den sinnstiftenden Einklang von Selbst und Umwelt also, der das Mehrdeutige eindeutig macht.“ Heimaten wären künftig dort gegeben, wo man sich versteht, wo man sich durch Verstehen wohl fühlt, wo Vertraute sind, die sich auf Gemeinsamkeiten verständigen. Ohne Verantwortung entsteht kein Vertrauen, ohne Vertrauen keine Vertrautheit, ohne Vertrautheit kein Heimatgefühl.

Der Germanist Bernd Witte, der über „Jüdische Tradition und literarische Moderne“ schreibt, fragt danach: Kann das Exil überhaupt je Heimat werden? Er schreibt über die Entwurzelungen: „In Zeiten der Migration ist die jüdische Diaspora, eine Erfahrung, die zum Kennzeichen der Gegenwart wird. Denn ein Volk, das schon keine äußere Heimat mehr hat, hat zumindest eine innere.“ Und genau diese Wandlung der territorialen in eine ideelle Heimat lässt die Legende vom Auszug der Juden aus Ägypten und des Empfangs der Gesetzestafel am Berge Sinai bis heute aktuell erscheinen.

Dieser Beitrag wird in Teil II fortgesetzt!

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