Er konnte die geheimen Ursachen seines fortschreitenden Rückzugs auf sich selbst mit niemandem besprechen, im Internat, die Bücher von daheim, sein einziger Kontakt. Eines ist dabei von Ernest Hemingway. Es verblüfft ihn, dass Ernest die gleichen Kindheitserfahrungen auf dem Land gemacht hat wie er selbst. Die Titel „Großer doppelherziger Strom I“, eine Erzählung aus dem Jahre 1925 und später dann gleichnamig „II“. Es sind Kurzgeschichten über einen Jungen namens Nick Adams und seinen detaillierten Naturschilderungen und dem Fischen im ländlichen Fluss. Hemingways Nick beschreibt dabei seine glücklichen Gefühle, die er selbst genau so vor langer Zeit erlebt hat: das Sich-Zusammenziehen des Herzens, das kurze Luft anhalten, den Moment des tiefen Glücks.
Mit „er“ ist Hanns-Josef Ortheil gemeint. In dem autobiografischen Buch „Die Erfindung des Lebens“ geht es um Sprachlosigkeit eines Kindes, um seine starke Sehnsucht nach Draußen, um Schlaflosigkeit, die Phantasien weckt und starke innere Unruhe bewirkt. Diese Unruhe lässt innere Bilder entstehen, alleine unterwegs in einer menschenleeren Landschaft zu sein, unterwegs zu einem großen Glück.
So wie Hemingways Nick-Adams-Geschichten oder den dadurch angestoßenen Träumen des kleinen Hanns Ortheil, so plagen wohl viele von uns Phantasien des auf und davon, des einfach Wegwollens – und zwar sofort. Raus aus dem eingesperrt sein, dem nicht mehr ununterbrochen etwas tun zu müssen, das uns von dem ablenkt, was wir eigentlich tun wollen. Beim kleinen Nick ist es das Fischen, bei Hanns das Klavier spielen. Aber was würde passieren, wenn wir einfachlos losliefen? Gibt es denn wirklich eine Flucht aus der eigenen Welt, wenn vielleicht sogar die Gefahr droht, ganz in ihr zu versinken? Traut man sich als Erwachsener überhaupt noch in eine ungewissen Welt zu laufen, wo wir doch inzwischen dabei sind, in unserer eigenen Welt ganz und gar unterzutauchen?
Hanns nutzt die Gelegenheit und läuft aus dem strengen Klosterinternat, aus einer Lebensform, in der er vom meist schweigenden zum sprachlosen Kind wird, sich immer mehr verschließt und in sich selbst zurückzieht, bis die ihn umgebenden Menschen ihn als den „Stillen“ bezeichnen. Er regrediert in seine Kindheit. Niemand nimmt wahr, dass er nicht freiwillig verstummt, sondern immer sprachloser wird.
Der oder die „Stille“, trifft das nicht auch zunehmend auf uns zu, die wir in unserer erzwungenen oder selbst gewählten Isolation immer einzelgängerischer werden?
Das kleine stille Kind Hanns hat sich auf den Weg gemacht. Für ihn selbst, so beschreibt er es, bewirkt sein Aufbruch für eine kurze Zeit, das Gefühl, das rettende Ufer zu erreichen. Beim Loslaufen, und auch hier ist wieder sein Gefühlsleben nachempfindbar, setzt für ihn Erleichterung ein, wird Ruhe spürbar, der buckelige Rücken gerader, das Gewicht auf den Schultern fällt ab. Glück erfüllt ihn er beginnt zu schreien, ein heller Schrei, aus der Stille geboren, mit dem die Verkrampfung der letzten Jahre herausgebrüllt wird. Es ist erstaunlich wie gesund und erleichternd das Schreien sein kann: …“der ganze Körper öffnet sich, ja es ist, als würde man sich langsam die Haut abziehen, aber auf angenehme Weise und daher, ohne dass es irgendwo schmerzt“, so beschreibt es Ortheil selbst.
Ein metaphorisch anregendes, kluges, anrührendes Buch hat Hanns-Josef Ortheil da geschrieben. Es passt sehr gut in eine Zeit der Krise und des unfreiwilligen Schweigens, da, wo der Schmerz kommt, aber Worte und andere Ausdrucksmöglichkeiten einfach fehlen, einmal laut und unermüdlich zu schreien, „bis hin zur Erschöpfung, um einen Moment lang zu vergessen, was einen umtreibt, nur noch den Körper spüren, sein Zittern, seine Ermattung…“