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Nach wie vor regt der Film “Ich bin dein Mensch” zu Leserbriefen an. Einer dieser Briefe beschäftigt sich mit den ambivalenten Gefühlen und Gedanken beim Eingehen einer “Pseudo-Partnerschaft”. Die Frage nach unserer Risikobereitschaft und der künftigen gewünschten Lebensgestaltung steht hier im Fokus. Herzlichen Dank für Deine Zeilen, liebe Eva Paulus!

Liebe Elke,

ich starte das neue Jahr mit einer dicken Erkältung. Zum Zeitvertreib lese ich ein wenig im Blog deines UniWehrsEl.

Ich habe auch den Film “Ich bin dein Mensch” geschaut und fand, dass im Film die ambivalenten Gefühle und Gedanken, die das Zusammenleben mit dem Roboter-Partner bei der Protagonistin erzeugt, treffend dargestellt sind. Abgesehen von dem Umstand, dass sich so eine Partner-Maschine vermutlich nie ganz “echt” anfühlen wird, ist die interessante Frage des Films, ob wir mit einem auf unsere Bedürfnisse programmierten (Liebes-) Partner nicht besser dran sein könnten, nicht ganz abwegig. Schließlich gehen viele Ehen in die Brüche, weil beide Partner im Laufe der Zeit andere Bedürfnisse entwickeln und die Wege sich trennen.

Wenn wir aber mit einem solch charmanten und lernfähigen, noch dazu unter für uns risikofreien und kontrollierbaren Rahmenbedingungen selbstständig denkenden und handelnden Partnerersatz zusammenlebten, wie er im Film dargestellt ist, erscheint diese Option verlockend: Nicht allein sein zu müssen, sich selbst mit seinem Aussehen, seinen Bedürfnissen und seinen Möglichkeiten nicht anzweifeln zu müssen, nicht immer auf die Bedürfnisse des Partners eingehen oder Rücksicht nehmen zu müssen, nicht dem Risiko einer Zurückweisung oder Trennung ausgesetzt zu sein und nicht das Risiko einer neuen Partnerschaft mit einem relativ Unbekannten eingehen müssen, falls wir eine Partnerschaft eingehen wollen….

Vorbehaltlos um unser selbst willen geliebt zu werden, aus diesem heimlichen Wunsch lassen sich die besten Liebesfilme drehen. Klugerweise enden diese Filme immer da, wo es eigentlich interessant wird: In der Bewährung dieser Liebe im Alltag danach.

Die Ambivalenz löst sich am Ende des Films nicht auf, aber man/frau darf vermuten, dass die Protagonistin sehenden Auges dieses Arrangement einer Pseudo-Partnerschaft akzeptiert. Obwohl sie um dessen narzisstische Komponente weiß, ist nicht diese der springende Punkt. Damit kommt sie als Intellektuelle klar. Ich denke vielmehr, dass ihr das echte Leben und Zusammenleben Angst macht: der kranke, altersdemente Vater, das während ihrer Schwangerschaft verlorene Kind, infolge dessen der Verlust des Partners….

Sie geht keine Lebensrisiken mehr ein, Leiden, Schicksalsschläge, Unvorhergesehenes, all das hält sie unter Kontrolle, sie sehnt sich aber trotzdem nach Nähe, Geborgenheit und Liebe. Das Arrangement bietet ihr dafür die perfekte Lösung.

In unserer Welt verschwimmen im Leben des Individuums die Grenzen zwischen analogem und digitalem Leben zunehmend. Uns ist das bewusst. Seit Corona mehr denn je. Insofern transportiert der Film diesen Ist-Zustand nur auf einen menschlich aussehenden, sprechenden und sich bewegenden Computer. Deshalb ist der Film m. E. auch keine Science fiction (mehr).

Also sehenswert, der Film. Er erzählt uns viel über uns selbst und fragt nach unserer persönlichen Einstellung zum Leben, welche Risiken wir bereit sind einzugehen und danach, wie wir uns unsere engsten, tragfähigsten und wichtigsten Beziehungen in der Zukunft wünschen, vorstellen und sie gestalten wollen.

So, langsam muss ich mal raus aus dem Bett.
Ich hoffe, du weißt heute am ersten Tag des Jahres etwas mit dir anzufangen.
Melde dich, wenn du magst, tut mir immer gut.


LG Eva


  • Beitrags-Kategorie:Blog
  • Beitrag zuletzt geändert am:4. Januar 2022
  • Lesedauer:4 min Lesezeit