Du betrachtest gerade Betreff: Tattoos – Ein Spiegel der Sehnsüchte und der Gesellschaft?

Am 23.04.25 begann unser Seminar zur „Sehnsucht“. Viele der Themen, die gestern angesprochen wurden, wie Macht (Zeit des Erwachens), Religion (Ostern und die Suche nach dem Heiligen Gral), Gemeinschaft („Der wilde Roboter“ und Empathie), Freiheit (Herrendorfs Tschick), Kindheit (Händels „Rodelinda und Matthias Brandt „Kosmos der Kindheit“), Heimat (Zauberwort „Maggi„) oder (Todes-)Sehnsucht (Nachdenken über Liebe und Tod), finden sich im UniWehrsEL wieder. Eines der Themen erregte besondere Aufmerksamkeit: die Tattoos. In einer E-mail wurde daraufhin beschrieben, wie Tattoos heute in der Öffentlichkeit zur Schau gestellt werden und sogar den Weg ins Theater gefunden haben. So zum Beispiel in der neuesten Inszenierung von Bizets Oper „Carmen“ am Staatstheater Mainz 2024. Die Hauptfigur wird als selbstbestimmte Frau dargestellt, die stolz ihre Tattoos zur Schau trägt. Diese Darstellung wirft bei der Schreiberin die Frage auf: Sind Tattoos mittlerweile in der Mitte der Gesellschaft angekommen? Und was steckt psychologisch hinter der Sehnsucht, sich tätowieren zu lassen?

Liebes UniWehrsEL,

Tattoos sind für mich mehr als nur Körperkunst; sie sind eine Form der ‚Body Modification‘, die oft mit dem Wunsch nach Selbstoptimierung einhergeht. Bereitschaft, sich tätowieren zu lassen zeigte zum Beispiel der Vorsitzender der Deutschen Dracula-Gesellschaft Mark Benecke, Mitglied des Komitees des Nobelpreises für kuriose wissenschaftliche Forschungen und der bekannteste Kriminalbiologe der Welt. Stolz auf seine Körpergestaltung ist er offensichtlich. Bekenntnis zu diesem Körperkult zeigte sich auch im „Grassi Museum“, wo er zum Thema der „Interaktiven Tätowierungen“ zu bewundern war.

Ich bin eine Frau, die sich tätowieren ließ, um mein Individualität auszudrücken und meine Lebensgeschichte zu erzählen, weniger um mich von gesellschaftlichen Normen abzugrenzen.

In der Vergangenheit waren Tattoos häufig mit Hafenarbeitern, Huren, Gangs und Gefängnisinsassen assoziiert und galten als verpönt. Diese Stigmatisierung hat sich jedoch gewandelt. Heute sind Tattoos ein Zeichen von Abenteuerlust und Experimentierfreude, was sie für mich attraktiv machen.

Ein eindrucksvolles Beispiel für die Bedeutung von Tattoos im kulturellen Kontext findet sich in Bertolt Brechts „Dreigroschenoper“. Hier gruppiert sich um den Titelhelden Mackie Messer eine Bande, die als Erkennungszeichen eine Tätowierung trägt. Diese Tattoos sind nicht nur ein Symbol der Zugehörigkeit, sondern bieten auch einen tiefen Einblick in das Verbrechermilieu des 20. Jahrhunderts. Die Hure Jenny trägt ein Tattoo, das ihre Verbundenheit mit Mackie verdeutlicht, als er noch ihr Zuhälter war. In diesem Stück wird deutlich, wie Tattoos damals gedeutet wurden – als Zeichen von Loyalität, Identität und oft auch von sozialer Marginalisierung.

Trotz der heutigen Akzeptanz erlebe ich immer noch ein Stigma, das mit Tattoos verbunden ist. Menschen mit Tattoos werden häufig als weniger vertrauenswürdig wahrgenommen und oft mit einem unsteten Lebensstil assoziiert. Diese Vorurteile können die sozialen und beruflichen Chancen der Tätowierten beeinträchtigen. Besonders Frauen mit Tattoos werden wohl oft als weniger attraktiv wahrgenommen, was zeigt, dass tief verwurzelte gesellschaftliche Normen und Stereotypen nach wie vor Einfluss auf die Wahrnehmung von Tätowierungen haben.

Andererseits glauben viele, dass Tattoos sie sexuell attraktiver machen. Zumindest in Studien konnte ich lesen, dass Menschen mit Tattoos oft als abenteuerlustiger und experimentierfreudiger wahrgenommen werden. Diese Wahrnehmung kann das Selbstbewusstsein stärken und das Gefühl von Anziehung erhöhen. Ein aktuelles Beispiel dafür sind wohl meineserachten Reality-TV-Formate wie „Love Island“, in denen die Teilnehmer ihre Körper zur Schau stellen und oft mit auffälligen Tattoos versehen sind. Diese Kandidaten nutzen ihre Körperkunst, um sich von anderen abzuheben und ein bestimmtes Image zu kreieren, das sowohl Selbstbewusstsein als auch sexuelle Anziehung suggeriert.

Die Schattenseiten dieser riskanteren Lebensstile werden in solchen Reality-Formaten oft klischeehaft bedient. Dort trinken die Teilnehmer übermäßig Alkohol und gelten als sehr locker in ihrer Sexualmoral. Kein Wunder also, dass Menschen dies mit Tätowierungen verbinden. Tattoos werden in diesem Kontext nicht nur als Ausdruck von Individualität, sondern auch als Teil eines Lebensstils gesehen, der mit Unbeschwertheit und Risikobereitschaft assoziiert wird.

Tattoos als Zeichen der Stammeszugehörigkeit bei indigenen Völkern, wie den Maori

Ein weiterer interessanter Aspekt von Tattoos ist ihre Rolle in der Stammeszugehörigkeit, wie sie bei indigenen Völkern, wie den Maori, zu finden ist. Bei den Maori sind Tattoos, oder „Ta Moko“, nicht nur Kunstwerke, sondern auch tief verwurzelte Symbole der Identität, des sozialen Status und der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stamm. Im Vergleich dazu zeigen die Krieger in Reality-Formaten oft eine ähnliche Dynamik, wenn sie ihre Tattoos als Zeichen von Stärke und Zugehörigkeit zu einer Gruppe präsentieren. Während die Maori-Tätowierungen eine jahrhundertealte Tradition und kulturelle Bedeutung haben, sind die Tattoos der Reality-Teilnehmer oft eher oberflächlich und dienen der Selbstdarstellung in einem modernen, konsumorientierten Kontext. Dennoch spiegelt sich in beiden Fällen der Wunsch wider, Teil einer Gemeinschaft zu sein und sich durch Körperkunst zu definieren.

Vorurteile und Wahrnehmung

Die gesellschaftliche Wahrnehmung von Tätowierten ist also ambivalent. Während einige Tattoos als Ausdruck von Kreativität und Individualität sehen, gelten andere Tätowierte als weniger vertrauenswürdig und als Menschen mit einem unsteten Lebensstil. Diese Vorurteile sind oft tief verwurzelt und spiegeln sich in der Art und Weise wider, wie tätowierte Menschen in den Medien und in der Gesellschaft dargestellt werden.

Dass besonders Frauen mit Tattoos in Studien häufig als weniger attraktiv wahrgenommen würden, zeigt sich für mich in stereotypen Vorstellungen einer Frauenrolle, die sich aus der Geschichte der Tätowierung speisen. Aggressive Tattoos oder bestimmte Motive, wie Tränen am Augenrand, können sogar mit Gewalt und Kriminalität assoziiert werden. Diese Vorurteile werden durch die Darstellung von Charakteren und den Teilnehmern von Reality-Formaten verstärkt. Beide Gruppen stehen für eine Lebensweise, die von gesellschaftlichen Normen abweicht und oft mit einem gewissen Risiko verbunden ist. Mackie wird als charismatischer, aber moralisch fragwürdiger Charakter dargestellt, während die „Love Island“-Kandidaten oft als oberflächlich und unzuverlässig wahrgenommen werden. Diese Wahrnehmungen tragen dazu bei, dass Tattoos weiterhin mit einem Stigma behaftet sind.

Mein Fazit: Der Wandel der Bedeutung

Die Bedeutung von Tattoos hat sich im Laufe der Zeit erheblich gewandelt. Während sie früher oft mit sozialer Marginalisierung und einem Leben am Rande der Gesellschaft assoziiert wurden, sind sie heute zunehmend ein Zeichen von Individualität und Selbstbewusstsein. In der heutigen Zeit könnte man sich vorstellen, dass eine Figur wie Carmen, hätte sie überlebt, möglicherweise das Beziehungstattoo von sich und José entfernen lassen würde, um einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen und sich von ihrer Vergangenheit zu lösen.

Das Motiv des Abschließens mit einem bestimmten Kapitel im Leben ist in der modernen Gesellschaft weit verbreitet. Tattoos, die einst als ewige Erinnerungen an vergangene Beziehungen oder Lebensabschnitte galten, werden heute oft als temporäre Kunstwerke betrachtet, die je nach Lebenssituation angepasst oder entfernt werden können.

Letztlich bleibt die Entscheidung für oder gegen ein Tattoo heute eine Frage der individuellen Freiheit und Selbstbestimmung. Ob Tattoos als Ausdruck von Identität und Vergangenheit dienen, oder Zugehörigkeit und Loyalität symbolisieren – Tattoos sind Ausdruck einer sich wandelnden Kultur. Dazu gehören mutige facettenreiche Lebensstile, die den Wunsch widerspiegeln, sich von alten damit verbundenen Vorurteilen zu lösen und Platz für neue Einstellungen zu schaffen.

Trotzdem scheinen Tattoos heute weniger den Individualisten vorbehalten zu sein, sondern sich immer mehr zum austauschbaren Massenphänomen zu entwickeln. Tattoos wie „Arschgeweih“ oder „Goa-Sonnen“ der 90er Jahre werden heute eher belächelt, letztlich haben sie ihre Funktion als Distinktionsmittel eingebüßt. Eher kommen nun die Gesundheitsaspekte in den Fokus, die nach den Langzeitfolgen der unter die Haut gestochenen Farbpigmente fragen.

Danke sagt für Seminar und UniWehrsEL eine Teilnehmerin und bittet um Ihre Kommentare zu ihrem Beitrag!

Danke für das Bild von Annie Spratt auf Pixabay