Du betrachtest gerade Benn, Kokain und die Kunst im Expressionismus – psychologisch-literarische Deutungsversuche

In unserem Seminar zur Sehnsucht im Kontext von Gottfried Benn haben wir unser Augenmerk auf Benn und den Konsum von Morphinen gelenkt (dazu auch die Gedanken zu Sehnsucht, Rausch und Identitätsfindung). Eine Leserin des UniWehrsEL hat weiter geforscht und fand einen Artikel in der Pharmazeutischen Zeitung über Sucht und Sehnsucht der Berliner Literaten. Kurz zusammengefasst liebte Benn Experimente mit Drogen aller Art, darunter auch Kokain. Er wollte als aktiver Militärarzt wirken, wurde wegen einer Wanderniere zunächst jedoch nicht angenommen, man setzte ihn dann im Ersten Weltkrieg doch als Sanitätsoffizier ein, er ließ sich aber schon vor Kriegsende 1917 in Berlin als Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten nieder. Unter dem Einfluss von Else Lasker-Schüler (1869 bis 1945), mit der er ein Liebesverhältnis hatte, wandte er sich dem Expressionismus zu und begann in den 20er-Jahren mit einer »radikal-avantgardistischen Erneuerung des Vokabulars«“.

Liebe UniWehrsEL Leser,

Eberhard Biniek für den Umgang mit mit psychologisch-literarischen Texten nutzend, möchte ich zunächst meinen Fokus auf das Thema „Sehnsucht“ lenken. Biniek (er wurde ja bereits im oben genannten weiteren Artikel zu Benn aufgegriffen) ist mir bekannt für seine Analysen und Interpretationen von Autoren wie Gottfried Benn, Georg Trakl und anderen expressionistischen und modernen Dichtern.

In Bezug auf Dichter wie Gottfried Benn sieht Biniek die Sehnsucht als eine treibende Kraft, die das poetische Schaffen beeinflusst. Benn selbst drückt in seinen Gedichten häufig eine tiefe Melancholie und das Verlangen nach Transzendenz aus, das Biniek als eine Art Suche nach dem Unbekannten interpretiert. Biniek hebt hervor, dass diese Sehnsucht oft mit einer gewissen Ambivalenz verbunden ist: Das Verlangen nach etwas Höherem oder Unbekanntem kann gleichzeitig auch Schmerz und Unruhe bedeuten. In seinen Werken analysiert Biniek, wie Dichter diese Sehnsucht in ihrer Sprache, ihren Bildern und Symbolen zum Ausdruck bringen. Er zeigt auf, dass die Literatur dieser Zeit oft von einem Gefühl des Verlorenseins und der Suche geprägt ist, was sich in der Sprache und den Themen widerspiegelt.

Zum Beispiel in seinem Gedicht „Morgue“ zeigt Benn eine düstere Welt, in der die Sehnsucht nach Leben und Transzendenz mit dem Blick auf den Tod verbunden ist. Biniek interpretiert dies als eine Suche nach einem höheren Sinn, die gleichzeitig Schmerz und Unruhe verursacht. Die Sprache Benns ist dabei oft nüchtern und präzise, was die Kälte und das Gefühl des Abgeschnittenseins unterstreicht. Auch Georg Trakls Gedichte sind Ausdruck einer tiefen inneren Sehnsucht nach Harmonie und einer besseren Welt. Trakls Bilder sind oft von Natur, Tod und Verfall geprägt, was die ambivalente Beziehung zwischen Wunsch und Verzweiflung zeigt. Biniek sieht in Trakls Werk eine Suche nach einer transzendenten Ordnung, die im Chaos und in der Dunkelheit der Welt verloren gegangen ist.

Kokain durchaus, Benn, so Biniek, habe aber nie Morphium konsumiert

Die Situation, in der Benn seiner Mutter Morphium geben wollte, während sein Vater dagegen war, weist meines Erachtens auf einen Konflikt oder Spannung innerhalb der Familie hin. Eine Deutung in psychoanalytischer Sicht, insbesondere im Kontext des Ödipuskomplexes erscheint möglich. Die Tragödie „Ödipus Tyrannos“ von Sophokles handelt von einem König, der ohne sein Wissen seinen Vater erschlug und die eigene Mutter heiratete. Als man ihm seine wahre Herkunft eröffnet, blendet er sich. Freud versteht den Ödipuskomplex als „Grundpfeiler der Psychoanalyse“ (Freud, 1910: 73), in dem das vier- bis fünfjährige Kind sich dem andersgeschlechtlichen Elternteil zuwendet. Unbewusst geht es um die Gefühle und Rivalitäten zwischen Elternteilen und dem Verlangen nach der elterlichen Zuneigung. Der Elektrakomplex nach C.G. Jung ist das Gegenstück zum Ödipuskomplex (dazu auch unser Beitrag Elektra„).

Benn, Kokain und die Künstler im Expressionismus

Dass Benn Kokain konsumierte, wurde bereits im UniWehrsEL thematisiert. 2010 gab es in „BaZ Kultur“ einen Bericht, der unter anderem auch Benn betraf, unter dem Titel „Als die Künstler jede Menge Kokain konsumierten„. Hinter dem Titel «Gesamtkunstwerk Expressionismus» verbargen sich die expressionistischen Jahrzehnte zwischen der Gründung der Künstlergruppe «Die Brücke» 1905 in Dresden und der programmatischen Absage an den utopisch-expressionistischen Aufbruch durch die Ausstellung «Neue Sachlichkeit» 1925 in Mannheim.

Kurz zusammmengefasst: Die Stimmung im Expressionismus, die Aufbruchs- und Selbsterlösungsfantasien, aber auch apokalyptische Szenarien spiegelt, tritt in den Werken von Otto Dix oder George Grosz wie in den Gedichten von Jakob van Hoddis oder den Architekturmodellen von Paul Scherbart oder Ludwig Mies van der Rohe hervor. Im ‚Koakintanz‘ wurde Anita Berger berühmt.

Interessant: „Das Kokain, das die Künstlerszene zu jener Zeit massenhaft konsumierte, stammte von der Firma Merck in Darmstadt und galt damals offiziell noch als Schmerzmittel. Von Gottfried Benn über Ernst Jünger bis zu Ernst Ludwig Kirchner machten viele Erfahrungen mit dem ekstatischen Taumel und dem «Tanz auf dem Vulkan»“ (frei nach Malcolm Lowry „Unter dem Vulkan„, wo es um Trunksucht geht).

Die Farbe blau spielt im Expressionismus eine große Rolle

Gottfried Benn hat in seinem Werk und seiner Literatur immer wieder mit verschiedenen Farben gearbeitet, um Stimmungen, Gefühle oder symbolische Bedeutungen zu vermitteln. Blau wird oft mit Tiefe, Melancholie, Kälte oder auch Spiritualität assoziiert. In der Literatur und Kunst wird Blau häufig verwendet, um eine gewisse Distanz, Nachdenklichkeit oder das Unbekannte zu symbolisieren.

Yumeng Hu untersucht Werke von Georg Heym, Georg Trakl und Else Lasker-Schüler. Unter dem Titel Die Metaphorik der Farbe Blau in der expressionistischen Lyrik beschreibt sie, Blau fungiere in Form „des schriftlichen Zeichens auch in der expressionistischen Lyrik als ausdrücklich metaphorischer Bedeutungsträger“. Sie fragt, wie sich Blau in der expressionistischen deuten lässt.

Benn beschreibt Blau, so Biniek, nach vermutlichem Koksgenuss als „Rausch der plazentaren Räume“, oft bildhaft, fast verstörend. „Rausch“ steht hier für einen Zustand der Ekstase oder des Übermaßes, während „plazentare Räume“ eine Anspielung auf die Gebärmutter oder den Mutterleib sein könnten. Damit könnte Benn auf eine Art ursprünglichen, primalen Rausch oder eine Verbindung zum Ursprung des Lebens anspielen. Benn war bekannt dafür, mit starken Bildern und Symbolen zu arbeiten, die oft das Körperliche, das Ursprüngliche und das Existenzielle berühren. Dieses Zitat passt gut zu seinem Stil, der häufig die Grenzen zwischen Leben, Tod verschwimmen lässt.

Expressionismus, der Dichter Walter Rheiner und die Angst vor dem Tod

Ein Werk wurde von uns im Seminar besonders besprochen, weil es zu Benns „Kokain“ passt. Gerne möchte ich hier eine kleine Zusammenfassung und Betrachtung des Werks „Der Tod des Dichters Walter Rheiner“ von Conrad Felixmüller geben. Der Tod des Dichters Walter Rheiner“ ist ein Werk, das sich mit dem Tod und dem Leben des gleichnamigen Dichters Walter Rheiner auseinandersetzt. Felixmüller, bekannt für seine expressionistische Malerei, hat dieses Werk in einer intensiven, emotionalen Bildsprache gestaltet, die die Tragik und das Schicksal des Dichters widerspiegelt.

Walter Rheiner war ein bedeutender Vertreter des Expressionismus, der selbst mit Krankheit und frühen Tod konfrontiert war. Seine Lebensgeschichte ist geprägt von einer intensiven, manchmal auch leidvollen Auseinandersetzung mit der eigenen Existenz. Das Werk könnte auf unbewusster Ebene die Angst vor dem Tod, die Sehnsucht nach Unsterblichkeit durch die Kunst oder die Verarbeitung von Schmerz und Verlust symbolisieren. Felixmüller zeigt vielleicht die Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens und die Bedeutung des künstlerischen Schaffens als eine Art Bewältigungsstrategie gegen die Vergänglichkeit.

Mit herzlichen Grüßen vom Team UniWehrsEL und der Bitte um einen Kommentar!

Danke für das expressionistische Image by Glauco Gianoglio from Pixabay