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Im Wissenschaftlichen Kontext ist es notwendig, auf bekannte Theoretiker und Vordenker zurückzugreifen. So soll dies auch bei den beiden nun im Sommersemester 23 anlaufenden Seminaren geschehen. Die theoretische Klammer zu den Seminarthemen „Fressen und Moral“ und “Trauerkultur im Wandel” bietet Norbert Elias, einer der bedeutendsten Soziologen des 20. Und 21. Jahrhunderts. Er gilt als einflussreicher Vordenker. Wie viele vor ihm, deren Denken abseits des Mainstreams liegt, stieß er bei seinen Untersuchungen und Analysen gesellschaftlicher Prozesse zunächst auf sehr viel Kritik in den eigenen Reihen. Erst gegen Ende seines Lebens gelang es ihm, die Rolle des Außenseiters gegen die des anerkannten Wissenschaftlers zu tauschen. So barg die Verleihung des Adorno-Preises der Stadt Frankfurt 1977 für ihn nicht nur die Genugtuung der öffentlichen Anerkennung, sondern auch die Erkenntnis, wie wesentlich es im Leben ist, selbstständig und unabhängig zu denken, auch wenn da Ältere Autoritäten zu ganz anderer Meinung kommen.

Er selbst verstand sich als „Menschenwissenschaftler“, der interdisziplinär dachte und gedanklich Philosophie, Soziologie und Psychologie zusammenzuführte. Als Einzelkind eines vermögenden deutsch-jüdischen Textilfabrikanten in Breslau geboren, wurde er nach Kriegsdienst als Telegrafist und Sanitätssoldat, Student der Medizin und Philosophie. Die Soziologie, die er 1925 in Heidelberg bei Karl Mannheim studierte, wurde zu seiner wahren Profession. Es folgte die Berufung nach Frankfurt als Habilitand, die durch die nationalsozialistische Machtübernahme zum Abbruch kam. Er floh nach Frankreich und 1935 weiter nach England. Dort schrieb er sein berühmtes Hauptwerk „Über den Prozess der Zivilisation“. Darin vertritt er die These, dass die Geschichte der abendländischen Zivilisation ein Prozess zunehmender Verhaltensdifferenzierung und Affektkontrolle sei, mit standardisiertem „Zwang zum Selbstzwang“, also reflektiert mit Affekten umzugehen oder sie sogar strategisch einzusetzen, was schlussendlich die Macht von Herrschenden günstig beeinflusse.

Für unsere Überlegungen in den oben genannten Seminaren sind nun zwei der Bände von Elias sehr wertvoll: „„Die höfische Gesellschaft“ und „Die Einsamkeit der Sterbenden“. Ersteres entstand schon sehr früh und gilt als Vorarbeit zur Zivilisations-Theorie. „Die höfische Gesellschaft“ kennzeichnet veränderte ‚Peinlichkeits-Schwellen‘ und begründete denFrüher großen Individualisierungs-Schub der Neuzeit. Sie ließ „protokollarische Abhängigkeiten“ entstehen, in die sich Menschen, in einer „verhoften“ Gesellschaft (wie Elias das nennt) zueinander begeben.

Elias erklärt wie sich über viele Generationen hinweg die Menschen immer wieder in derselben „höfischen Figuration“ bewegen, wenig eigene Ideen entwickeln und sich stattdessen Zwängen und Etiketten unterwerfen.  Eine Familie herrscht und der unterwerfen sich die anderen unhinterfragt. Die symbolische Macht zeigt sich dann in Zeremonien, denen sich unterworfen wird, weil dieses „höfische“ soziale System gleichzeitig Herrschafts-Sicherheit bietet und Rollen-Interpretationen zulässt. Früher: Abhängigkeiten durch Vasallentum, Lehen und fein abgestufte aristokratische Vorrechte und Pflichten. Befriedung nach innen, Wehrhaftigkeit nach außen. Zentralisierung meinte Effektivierung der Herrschaftsfunktionen für den König (Rund 10 000 Menschen lebten Mitte des 18. Jahrhunderts im Schloss von Versailles, um ihrem König nahe zu sein).

Die Frage wäre dann: Wo zeigen sich heute noch solche typischen “höfischen Figurationen”?

Was für das Verständnis rund um das Thema „Essen und Moral“ im Wandel der Zeiten von Bedeutung ist: die Adligen unterschieden sich nicht nur  durch vermehrten Besitz vom Rest der Bevölkerung, sondern durch einem besonderen Umgang untereinander, durch ein verfeinertes BenehmenDie feinen Unterschiede (Bourdieu) oder die Macht der Distinktion heißt also, bestimmte Zeichen und Symbole repräsentieren zu können, die man untereinander kennt, die sich aber dem Verstehen der „Nicht-Eingeweihten“ entziehen. Diese zeigen sich ganz besonders in Fragen des Geschmacks.

Was es also bedeutet, im Besitz des „Guten Geschmacks zu sein“ gilt es im Seminar gemeinsam zu diskutieren.

Neben der Affektregulierung durch Selbstkontrolle gäbe es auch noch einen weiteren Mechanismus im menschlichen Sozialisierungsprozess, der im Verlauf der Geschichte immer weiter ausgebildet wurde, so Elias. Unsere Fähigkeit, der Identifikation, verbunden mit Empathie, habe sich immer weiterentwickelt. Je mehr man sich aber in die Rolle des anderen versetzen kann, umso mehr Angst entwickele sich dann, wenn es ans Sterben gehe. Und gerade weil der Tod so bedrohlich sei, weil der Tod der anderen qua Identifikation uns an den eigenen Tod erinnere, würde er in der Moderne aus dem Alltag weitgehend herausgedrängt, ein Ansatzpunkt von Norbert Elias‘ später Schrift „Über die Einsamkeit der Sterbenden“.

Wovor haben hochgerüstete Gesellschaften Angst? Die Aussonderung der Kranken aus der Gesellschaft geschähe aus Angst vor der eigenen Vernichtung, sowie der Sehnsucht nach Unsterblichkeit, folgert Elias. Die Verdrängungsthese von Elias greifen die Soziologen Meitzler und Benkel wieder auf, indem sie mit Bestattern sprechen oder in Krankenhäusern forschen.

Was hat sich gewandelt und warum ist es so entscheidend, sich dieser Thematik in aller Offenheit zuzuwenden? Dies wird von uns im Seminar auch gemeinsam zu diskutieren sein.

Und zum Schluss noch eine Ergänzung, die sie im Deutschlandfunk nachlesen können; Elias übt auch Kritik an Ariès, den wir im UniWehrsEL ebenfalls zu der Thematik des Todes bereits kennen gelernt haben: „ … die Auswahl von Ariès Belegen sei einseitig, bei seiner Interpretation mittelalterlicher Epen habe er gar nicht verstanden, dass diese Idealisierungen des Ritterlebens darstellten. Schließlich sei Ariès‘ Hauptthese – vom sanften, freundlichen, „gezähmten“ mittelalterlichen Tod inmitten der liebenden Verwandtschaft – angesichts der von großen Schmerzen gequälten Kranken, des lamentablen Kenntnisstandes der Medizin, der von der Kirche angeheizten Angst vor der Hölle und der hungernden, mißgünstigen und erbschleicherischen Verwandten nicht so recht nachzuvollziehen.“

Danke für das Bild über die Soziologie des Einzelnen in der Gruppe von Gerd Altmann auf Pixabay.