E. T. A Hoffmanns „Der Sandmann“ am Schauspiel Frankfurt überzeugt durch KI
E. T. A. Hoffmanns Novelle „Der Sandmann“ erscheint mit seinem multiperspektivischen Erzählstil weniger für eine Bühnendramatisierung geeignet. Aber er fasziniert immer wieder durch seine Thematik, in der neben Ängsten und Liebe auch Wirklichkeitswahrnehmung und Wahn eine Rolle spielen. Die Regisseurin Lilja Rupprecht hat aus Hoffmanns Vorlage eine kompakte Bühnenfassung erstellt (Spieldauer: 90 Minuten ohne Pause). Die aktuelle Inszenierung von „Der Sandmann“ am Schauspiel Frankfurt findet ein Leser des UniWehrsEL besonders interessant, weil es für ihn gedanklich an das Seminar „Von Puppen und Menschen“ anknüpft.
Sehr geehrte Redaktion, des UniWehrsEL!
Die Figur des Nathanael wurde in unserem Beitrag zu Nachtstück, Narzissmus und der Sandmann bereits eingehend beleuchtet. Für mich steht nun ebenso die Figur der Puppe Olimpia im Fokus, weil sie sich als eine wichtige Figur und Urmutter der KI herausstellt. Die Produktion hat bei mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen – nicht nur wegen ihrer kunstvollen Umsetzung der E.T.A. Hoffmann‑Geschichte, sondern auch wegen der subtilen Parallelen, die sie zu unserer heutigen Beziehung zu künstlicher Intelligenz zieht. Zudem knüpft die Produktion am Schauspiel Frankfurt gedanklich an das Seminar zur Thematik Puppe und Mensch an. Olimpia agiert nicht nur als mechanische Puppe, sondern als Seelenverwandte für Natanael – ein Spiegel seiner eigenen Einsamkeit und seines Bedürfnisses nach bedingungsloser Bestätigung.
Im Zentrum steht Nathanael, verkörpert von Mitja Over. Seine traumatisierte Kindheit wird durch die Begegnung mit dem Wetterglashändler Coppola (genial gespielt von Matthias Redlhammer) ausgelöst. In Natanaels Vorstellung wird Coppola zum finsteren Coppelius, dem er den Sandmann gleichsetzt – die Schauerfigur, die Kindern Sand in die Augen streut, sodass das Blut aus dem Kopf sprudelt, wie seine Mutter (Heidi Ecks) ihm einst erzählte. Natanael glaubt, dass Coppelius für den frühen Tod seines Vaters verantwortlich ist; beide hatten alchemistische Experimente mit Spalanzani (der Vater, dargestellt von Sebastian Kuschmann) durchgeführt.
Seine Verlobte Clara, gespielt von Tanja Merlin Graf, versucht mit nüchterner Logik Nathanaels Ängste zu zerstreuen. Sie argumentiert, dass die Gespenster nur in seinem Inneren existieren. Doch Natanael bleibt skeptisch, weil Coppola ein Bekannter des Physikprofessors Spalanzani ist – des Nachbarn, der später als Vater von Olimpia erscheint.
Olimpia, die schillernde Puppe, wird von Manja Kuhl dargestellt. Sie erscheint zunächst in einem kleinen, fast lebendig wirkenden Puppenhaus (immer wieder ein Symbol, für Frauen, die in bestimmte Rollen gezwungen werden, wie in Ibsens Nora), das zugleich das Elternhaus der Familie darstellt. Dieses Haus ist nicht nur ein Bühnenobjekt, sondern ein Symbol für Nathanaels verzerrte Wahrnehmung: es wächst, dehnt sich und verzerrt sich, je mehr Natanael versucht, die Realität zu begreifen. In einer Art Gewächshaus wird Olimpia „gezüchtet“, bevor sie zentral in Nathanaels Leben eintritt. Ihr einziges Wort, ein leises „Ach“, ist das Seufzen einer passiven Gesprächspartnerin, die stets zustimmt und nie widerspricht – ein Bild, das an moderne KI‑Assistenten erinnert.
Die KI-Systeme sollen auch immer freundlich, hilfsbereit und nett zu dem Benutzer sein. Ihre Nutzung soll als angenehm vom Benutzer empfunden werden. Der Nutzer baut eine Beziehung zum KI-System auf. Das KI-System kritisiert seinen Nutzer normalerweise nicht, es ein denn, der Nutzer hat es vorher darauf angewiesen. Darin kann ein kritischer Theatergänger durchaus Parallelen zwischen Olimpia und einem KI-System wie Chat-GPT erkennen.
Das Bühnenbild wandelt sich im Verlauf der Aufführung von einer romantisch anmutenden Seelen- und Wüstenlandschaft des Sandmanns, die Nathanael in seinem Kopf trägt, zu einer futuristischen Kulisse. Die ersten Szenen, das Elternhaus, sind von romantischen Motiven durchdrungen. Später taucht das Auge als Zentrum der visuellen Wahrnehmung, ein Spiegel der Seele, ein zarter Schleier aus Pastell und Samt auf. Das Auge ist ein Übergang in die futuristische Phase, in der das Fernglas von Coppola übergeben wird, dominiert ein kühles und dunkles Bühnenbild.
Dieser Kontrast betont die Kluft zwischen Natanaels menschlicher Sehnsucht und der kalten, mechanischen Welt, die er durch das Fernglas zu sehen beginnt. Olimpias Auftritt hat etwas von einer Disco-Szene. Sie ist umgeben von weißen Stäben, die in ein schwarz-weißes Licht getaucht sind. Sie trägt dasselbe Kleid, wie seine Verlobte Clara. Beide Frauen scheinen in der Vorstellungswelt von Nathanael zu verschmelzen. Dieser Vorgang ist irgendwie beängstigend und lässt den Zuschauer die Wahnvorstellungen, die Nathanael hat, sehr gut nachvollziehen.
Durch eine Live-Video-Technik wird das Gesicht der Schauspieler in Echtzeit von einer KI manipuliert. Die Gesichter verzerren sich, fließen ineinander und erzeugen eine düstere, fast geisterhafte Atmosphäre, die den Gruselfaktor der Geschichte verstärkt. Dieser Einsatz von Technologie spiegelt das zentrale Motiv der Produktion wider: die Verführung durch etwas, das scheinbar lebendig wirkt, aber letztlich nur eine Illusion ist.
Der Moment, in dem Nathanael das Fernglas benutzt, ist entscheidend. Plötzlich erscheint Olimpia in seinen Augen lebendig, während seine reale Verlobte Clara zu einem leblosen Automaten wird. Diese Verwechslung erinnert stark an die heutige Tendenz, sich in KI‑Begleiter zu verlieben, die stets zustimmend und hilfsbereit sind, aber keine echte emotionale Tiefe besitzen. Nathanaels verzerrte Wahrnehmung ist ein warnendes Beispiel dafür, wie leicht wir Technologie als Ersatz für menschliche Nähe missbrauchen können.
Abschließend lässt sich sagen, dass die Regie von Lilja Rupprecht wieder einmal sehr gelungen ist. Ihre fünfte Inszenierung am Schauspiel Frankfurt, nach Bachmanns Malina,
Fassbinders Die Ehe der Maria Braun zeigt sich eine gelungene Mischung aus romantischer Ästhetik, futuristischer Technik und tiefgründiger Psychologie. Sie hat ein Stück geschaffen , das sowohl künstlerisch als auch gesellschaftlich relevant ist. Es mahnt uns, die Grenzen zwischen menschlicher Empathie und künstlicher Bestätigung zu erkennen und nicht zu verwischen.
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