Du betrachtest gerade Jelineks Sonne/Luft – drohender Weltuntergang, Gespenst Klimawandel oder alles nur Show?

Jelineks Sonne/Luft zeigt das Schauspiel Frankfurt zu Jahresende 2024 und zu Beginn 2025. Nicht nur für Elfriede Jelinek sind Sonne und Luft elementar. Zum Stichwort Sonne, da war doch die Geschichte aus der griechischen Mythologie von Ikarus. Der wollte hoch hinaus, sein Flug ging schief. Er verbrannte den Flügel an der Sonne und stürzte ab. Der Sonnengott Apoll tauchte als Figur in Richard Strauß‘ „Daphne“ auf (auch bekannt für ihr eskapistisches Verhalten). Wenig sonnig zeigt Apoll da seine dunkle Seite. Luft braucht der Mensch zum Atmen. Geht uns bei allen Krisen zum Jahresende die Luft aus? Dies sind nur einige Gedankenfetzen, die sich der Kulturbotschafter des UniWehrsEL in der Vorbereitung auf Elfriede Jelineks Stück Sonne/Luft für uns gemacht hat. Danke für die Eindrücke vor und nach dem Besuch der Kammerspiele im Schauspiel Frankfurt. Der Vorverkauf zu diesem Stück startet übrigens im Januar 2025 wieder.

Liebes UniWehrsEl,

Sonne/Luft: Erstere regelt den Zeitablauf der Menschen, braucht er zum Überleben, hält ihn im Gleichgewicht. Irgendwann hat die moderne Wissenschaft ermittelt, wird die Sonne vergehen. Dies wird das Leben auf der Erde für immer verändern. Die Sonne wird nur noch ein belangloser Fixstern sein. Doch wird der Mensch die Erde vorher zerstört haben, oder werden die Menschen die Erde vorher retten? Möglicherweise mit neuen, heute unvorstellbaren Technologien? Geht das Leben der Menschen trotz dieses Erfolgs zu Grunde, weil sie wie Ikarus (Deutschlands Ikarus Festival startet im Juni) zu hoch hinaus wollen? Ein erschreckendes Szenario?  

Nicht nur zur Sonne, sondern auch zur Luft habe ich mir so meine Gedanken im Vorfeld gemacht. Schlechte Luft bedeutet schlechte Lebensbedingungen. Ohne Luft zum Atmen geht gar nichts mehr. Geht uns, allgemein gesprochen, die Luft aus? Dies kann durch Luftverschmutzung geschehen, oder schnürt uns dieses Chaos in der Welt gerade die Luft zum Leben ab? Diese schlechte Luft, welche Kreativität tötet und zum Funktionieren zwingt. Fehlt dem Menschen zuweilen die Luft zum Atmen, wird er zur fremdbestimmten, ferngesteuerten Maschine? Agiert er zunehmend ohne Lebensfreude? Erkenne ich, wie wesentlich Luft und Sonne für mich sind? Was kann ich zu ihrer Erhaltung beitragen? Ich bin gespannt, ob mir der heutige Schauspielabend Erleuchtung bringt.

In dem Stück Sonne/Luft tritt die Sonne ins Gespräch mit dem Zuschauer. Die Optik ist bestechend. In Form eines Showmasters tritt die Sonne an den Zuschauer heran. Eröffnet wird die Sonnenshow mit einem Ständchen. Es erinnert an die Gruppe Comedian Harmonists mit „Veronika der Lenz ist da„, nur eben in Englischer Sprache. Es klingt mehr wie „Let the Sunshine in“ aus dem Musical „Hair“. Kurz gesagt, die Stimmung des Publikums ist durch diese Einlage merklich aufgehellt.

Helligkeit ist das richtige Stichwort im Zusammenhang mit der Sonne. Die Sonne begegnet dem Menschen positiv. Ein sonniger Tag löst gute Gefühle beim Menschen aus. Der Mensch denkt, er könne es sich im Sonnenschein gemütlich machen. Dies gibt die Sonne jedoch als Selbstbetrug des Menschen zu Protokoll. Denn sie verfügt über eine düstere Seite. Die Sonne brennt und sie verbrennt. Die Sonne verbrennt den Planeten Erde und sich selbst. Sie sorgt für reichlich Ungemach. Wälder verbrennen. Der Wald geht in Flammen auf. Flüsse treten über die Ufer oder der Fluss vertrocknet. Auch das Wasser richtet sich gemeinsam mit der Sonne gegen den Menschen. Der Mensch begeht, laut der Sonne, einen für ihn fatalen Denkfehler.

Der Mensch denkt, alles drehe sich um ihn. Der Planet wäre dem Menschen untertan. Der Mensch spinnt sich selbst eine Geschichte zusammen, in welcher er alle wichtigen Entscheidungen und Informationen selbst in der Hand hat. Die Menschheit könnte selbst bestimmen über Grenzkontrollen, ebenso wie über den Schutz vor der nächsten Naturkatastrophe. Doch dieses Bild, dass der Mensch die Natur kontrolliert, ist für ihn eine Beruhigungspille. In Wahrheit hat die Sonne die Menschheit im Griff und nicht umgekehrt, wie sie uns wissen lässt: „Ich werfe mich auf alles, was der Fall ist, bis es selbst fällt.“ Der Mensch, davon ist die Sonne im heiteren Ton selbst überzeugt, der in seiner Selbsttäuschung viel zu lange versucht hat, sich die Natur zu eigen zu machen, dieser Mensch wird als Erstes gehen.

Der zweite Protagonist dieser, als Spielshow mit Showmastern getarnten, Untergangsfantasie von Elfriede Jelinek, ist die Luft. Für den Menschen ist die Luft eine Selbstverständlichkeit. Sie kommt, nachdem sich der Vorhang der Erkenntnis über die Sonne für den Zuschauer gehoben hat, zum Zug. Die Bühne mit den Schauspielern ist nun eine Quizshow. Dieses Szenario erinnert an die goldene Ära der Quizsendungen der 1970er Jahre. Da saßen Millionen von Deutschen vor den Fernsehern und sahen Familiensendungen wie „Dali Dali“.

Im Spiel scheint alles als sehr gediegen. Zwei Schauspieler:innen nehmen auf Kandidatenstühlen Platz. Wie wusste schon der große Fernsehpoet Kerkeling zu singen: „Das ganze Leben ist ein Quiz, und wir sind nur die Kandidaten„. Luft, so erfahren die Kandidaten, ist auf der Welt überall. Die Luft vermittelt zwischen den Menschen. Nicht umsonst heißt der Ausspruch: „Hier herrscht gerade dicke Luft„. Die Luft ist voller Klang. Die Schauspieler erfahren zwischen den Dialogen über Sonne und Luft, eine Verwandlung.

Als Sonnenanbeter treten sie als fröhlich-lustige Showmaster auf, die im Stimmenwechsel die Position der Sonne dem Zuschauer verdeutlichen. Als Luft verkörpern sie die entsprechenden Typisierungen; Sonnenanbeterin in der Badehose im reservierten Liegestuhl, Bikinischönheit, Lederhose tragende Bayerin, im Dschungel verirrte Pelzmantel tragende Schönheit. Alle diese Personen verbindet nicht ihr Aussehen, sondern die Luft, das Atmen.

Doch was bringt die Luft? Die Luft kann verpestet sein, durch Flugverkehr oder Industrieanlagen wie ein Bild im Hintergrund andeutet. Die Luft kann töten, wenn in der Luft Krankheiten sind; Pandemien werden lauern. Die Luft geht dem Menschen zum Ende seines Lebens buchstäblich aus. An dieser Stelle verwandeln sich die Schauspieler:innen in alte Greise mit Atemmasken.

Das Bild ist bedrohlich. Dennoch erscheint es dem jungen Menschen weit entfernt von seinem Alltag. Es sei denn, er ist kurzatmig, schon in seiner Jugend. So deutet es ein Schauspieler an, dann ist er sich der Bedeutung des Luftholens durchaus bewusst, aber dieser Jüngling ist eher die Ausnahme als die Regel in der Denkschule des Menschen. Der Jüngling ist eine ‚Abnorm‘. Er hustet und prustet. So unterschätzt der Mensch die Luft. Denn die Luft ist immer da und um den Menschen herum. Die Luft ist natürlich. Der Durchschnittsmensch kann die Luft sorglos ein- und ausatmen.

Mit dem Stück „Sonne/Luft“ hat Elfriede Jelinek sich mit dem Klimawandel beschäftigt, ohne das Wort dabei in den Mund zu nehmen. Das Thema wird angedeutet, aber das Wort „Klimawandel“ selbst fällt dabei nie. Dennoch befasst sich der Text intensiv mit der Möglichkeit des Weltuntergangs durch die unwiderruflichen Klimaschäden. Der Mensch hat sie in seinem Eifer bequem zu leben der Erde zugefügt.

Dadurch, dass die Sonne selbst zu Wort kommt, ist diese Rede nicht nur eine Belehrung des Publikums, sondern die Wörterreihungen entwickeln einen scharfen Witz. So ist der Sonnendialog kein reiner Abgesang auf die Menschheit, sondern lädt den Zuschauer auch zu einem Fest ein, das menschliche Leben zu genießen, ganz in dem Sinne von Paul Lincke: „Ist die Welt auch noch so schön einmal muss sie untergehen!“ Denn letztlich zerstört sich die Sonne mit ihrem Schein selbst in den nächsten Milliarden Jahren. Von der Sonne bleibt nur ein Aschekern. Jelinek nennt den Tod der Sonne den „Sternentod“. Eine Supernova, bei der nur ein kleiner Kern übrig bleibt.

Der zweite Teil Luft will das Ungreifbare für den Zuschauer erlebbar machen. Deshalb der Showroom, der keine wissenschaftlich-trockene Belehrung sein soll, sondern mit einem Augenzwinkern vorgetragene Tatsachen präsentiert, die schön bebildert werden. Denn der Zuschauer verfügt als Mensch über eine große Vorstellungskraft (?!) An einer Stelle folgt der mantraartig wiederholte Satz: „Wir machen alles immer noch schlimmer!“.  Wer ist mit Wir gemeint? Der Mensch, die Sonne oder die Luft? Der Untergang steht bevor, der Mensch ahnt es, aber niemand möchte ihn sehen. Dann lieber es mit Paul Lincke halten: „Darum trinkt und sinkt. Genießt was der Tag euch noch bringt, wenn der Erdenball zerkratzt, sind wir sowieso verratzt.“ Der Abgesang auf den Menschen kann noch etwas warten.

In einer Szene sieht der Zuschauer ein Lebkuchenhäuschen. Es ist eine Anspielung auf Weihnachten, auf Hänsel und Gretel. Das Häuschen liegt, wie schon ein alter Schlager wusste: „Ich habe ‘nen Bungalow in Sankta Nirgendwo„. Das scheint wohl mehr in der Phantasie des Sängers zu liegen, als in der realen Welt. Eine bessere Zukunft im Nirgendwo? Deshalb tauschen die Schauspieler den Abendanzug gegen den Strandlook. Denn in der Welt des schönen Scheins, irgendwo im Nirgendwo, ist alles möglich. So muss der Mensch sich nicht eingestehen, dass die Natur für ihn schon immer gefährlich war und in der Gegenwart noch gefährlicher geworden ist. Also schnell zurück in den bequemen Liegestuhl. Die Erde mag verglühen.

Die Menschen machen trotzdem nicht alle Trends mit. Der Weltuntergang soll gefälligst noch ein bisschen warten. Denn auch auf der „Titanic“ spielte das Orchester bis zum Schluss weiter heitere Melodien. Jetzt bloß nicht an den Klimawandel denken, sondern lieber an Paul Lincke und seine Melodien aus der Operette „Frau Luna“.

Persönliches Fazit: selten war ein Text von Elfriede Jelinek für den Zuschauer verständlicher und besser zu verstehen. Dennoch ist es eine große Herausforderung, diesem Text seine volle Aufmerksamkeit zu schenken. Die Regie macht es für den Zuschauer leichter, sich mit der Gedankenwelt einer Elfriede Jelinek auseinanderzusetzen.

Liebe Grüße zum Jahreswechsel 24_25 Ihr Kulturbotschafter des UniWehrsEL

Die verschwimmenden Konturen einer Frau im Bild von Heiner Schwens scheinen mit wunderbar zu Ihren Gedanken um die Notwendigkeit von Sonne und Luft zu passen. Danke, lieber Heiner, stellvertretend für alle, die das UniWehrsEL lesen und ihre Beiträge schreiben.

  • Beitrags-Kategorie:Blog
  • Beitrag zuletzt geändert am:31. Dezember 2024
  • Lesedauer:11 min Lesezeit