Psychologie des Alltags: was lehrt uns Kultur – ein Rückblick ohne Zorn
Das Jahr 2024 neigt sich dem Ende und so blickt so mancher Kulturfan zurück und macht sich so seine Gedanken. Der Rückblick ohne Zorn verweist dem Titel nach auf ein Schauspiel des britischen Dramatikers John Osborne in drei Akten, das am 8. Mai 1956 in London unter dem Titel „Blick zurück im Zorn“ uraufgeführt wurde. Der „Angry Young Men“ gab einen entscheidenden Anstoß für die Entfaltung des modernen englischen Theaters, des „British New Wave“. Als Wegweisend gilt „Othello“ (Shakespeare), ein Paradebeispiel für Charakterstudien. Otello (Verdi) ist kaum Herr seiner Leidenschaft, Desdemona ist eine heilige Idealisierung und Jago ein zynischer Bösewicht von diabolischem Ausmaß. Otello war diese Saison ein großes Thema. Darmstadt, Wiesbaden, Mainz und Frankfurt haben es diese Spielzeit aufgeführt. Alle in der Verdi Fassung. Was sagt das über die Theater der 2024er Jahre aus? Vielleicht, dass die Theater verzweifelt nach Stoffen suchen, die das Publikum kennt? Vielleicht auch, weil der Stoff so kontrovers diskutiert wird? Jedenfalls mit Kultur kennt der Kulturbotschafter sich ganz offensichtlich aus. Darum beschert er uns rückblickend einen Beitrag dazu. Das UniWehrsEL dankt!
Liebes UniWehrsEL,
Keine Sorge Romeo und Julia steht nächste Saison nicht an. Wer kennt schon die Opernfassung von Gounod? Eben kaum einer, außer den Theaterfans. Ich habe Gounods „Romeo und Julia“ einmal an der Staatsoper in Wien und an der Staatsoper in Prag live gesehen. Romeo bot ein für meine Augen ungewohntes Bild. Stelle ich mir Romeo eben als sehr jungen Mann vor, höchstens 16. In Wien schrie mein Herz: Verrat! Wurde Romeo doch von einem über 30jährigen gesungen. Da hilft auch die Schärpe nichts, die den leichten Bauchansatz verdecken sollte. Das ist die psychologische Tücke für den Zuschauer. Wenn seine erste Begegnung mit Romeo der Film mit dem sehr jungen Di Caprio war, dann hat es auch der beste Sänger der Staatsoper Wien gegen dieses Traumbild aus der Vergangenheit schwer anzukommen.
Nicht so für den Theatermacher selbst. Der hat sein Geld bereits mit dem Titel „Romeo und Julia“ dingfest gemacht. Denn der Zuschauer hat die Karte aufgrund des Schwelgens in der Vergangenheit ergattert. Klar, er regiert nun überempfindlich, wenn Romeo seiner Julia den Antrag mit der Lerche bei McDonalds macht, statt in Veronas alten Gemäuern, so gesehen am Staatstheater Darmstadt.
Übrigens singt in der französischen Fassung keiner von einer Nachtigall und einer Lerche. In Prag haben sie die Handlung schlicht weg von der Stadt Verona gelegt, in ein Hotelzimmer in Prag. Gibt es in Prag auch Balkone? Zumindest in einem Nobelhotel wie dem Ritz, so sah das Bühnenbild aus, da gab es schon einen Balkon. Fred Astaire tauchte in dieser Version als Freund von Romeo auf. Filmzitate auf Opernbühnen? Das ist schon krass. Da klaut ein Medium Theater beim anderen Medium Film.
Romeo und Julia auf dem Dorfe gab es aber bereits an der Oper Frankfurt. Das ist richtig, Romeo und Julia kombiniert mit der Enge des Dorfes. Eine coole Musical-Fassung von Romeo und Julia hat Leonard Bernstein in West Side Story gepackt. Ich habe noch die von Bernstein autorisierte CD aus den 1980ern. Der Clou daran, die zur damaligen Zeit berühmten Opernsänger haben die CD eingespielt. Für heutige Ohren klingt die CD leider äußerst schrill.
Möglicherweise wird man das eines Tages auch über die Musicalfassung von West Side Story an der Oper Kiel in den 1990ern sagen. Das war für den damaligen Opernliebhaber und Kenner der CD ein echter Kulturschock. Zu sehen waren Leute in Punkerklamotten. Wie Opernsänger klangen die auch nicht, sondern eher wie auf einem Rockkonzert. Nur hat der Klassikfreund bekanntlich wenig Ahnung von Rockkonzerten im Allgemeinen und von dem Lebensgefühl von Punkern im Besonderen. Von Wacken Open Air, was der sommerliche Gegenentwurf zu Bayreuth sein soll, hatte ich damals jedenfalls noch nie gehört.
2019 gab es dann den Kulturtausch in der Zeitung „Die Welt“. Der Kulturkritiker musste nach Wacken zum Musikfestival fahren und von dort über Rocker schreiben, während sich der Rockschreiber durch einen Wagnerabend quälte. Der Tausch wurde bisher nicht wiederholt. Beide Schreiber waren nach der Erfahrung vermutlich froh, wieder in ihre gewohnte Umgebung zurückzukehren.
Dagegen ist die Disney Neuverfilmung von West Side Story (Steven Spielberg) einfach zu clean. Alles wirkt so ordentlich. Fast klinisch rein. New York ist einfach zu schön dargestellt, selbst für Filmverhältnisse. Begegnet dem Zuschauer New York entweder im Krimi oder in den Comicverfilmungen wie Batman, ist die Stadt nie ‚perlweis‘ dargestellt. Das macht den Zuschauer stutzig. Seine Erwartungen an New York sind halt ein bisschen dreckig und zwielichtig. Da kommt diese wunderschöne, weichgespülte Darstellung von New York beim Zuschauer als wenig authentisch vor, und dann noch ein diverser Cast an Darstellern. Das ist für Menschen zu viel, die sich in Zeiten der Veränderung auf Stabilität in der Gegenwart hoffen.
In Zeiten der Krise sehnt sich der Zuschauer nach ihm bekannten Stoffen. Da kann man sehen, wie andere Leute Fehler machen, kann sie auch als Vorbild nehmen. Dazu gehört Freude oder Ärger über zu alte Besetzungen, über dicke Bäuche. Hier kann, darf man reflektieren, ob man im richtigen oder „falschen Film“ auch im Alltag zu sein glaubt.
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