You are currently viewing “Othello” – Diskriminierung, Eifersucht, Rache

Gegen Ende seines Lebens traf Giuseppe Verdi in Arrigo Boito auf jenen kongenialen Libretto-Partner, den er sein Leben lang gesucht hatte. Boito (1842-1918), der 26jährige Literat, Bohemien und Hobbykomponist war für einen spektakulären Misserfolg in die Schlagzeilen geraten.  Wollte er doch den ganzen „Faust“ Johann Wolfgang von Goethes zur Oper machen, eine vollkommen neue Art der Textdichtung kreieren und die italienische Oper grundlegend reformieren. Erfolgreich wurde später dann doch noch die revidierte und gekürzte Fassung von “Mefistofele“. Auch Giuseppe Verdi ließ sich zunächst widerstrebend auf das „Otello-Projekt“ ein. Schließlich wurde es aber an der Mailänder Scala zu Verdis größtem Erfolg.

Liebes UniWehrsEL,

Othello hat als Grundlage die Tragödie von William Shakespeare. Das Drama besteht insgesamt aus fünf Akten und 15 Szenen. Der Schauplatz im ersten Akt ist Venedig, die restlichen vier Akte spielen auf Zypern im 16. Jahrhundert.

Geschildert wird das Schicksal des venezianischen Heerführers Othello. Wegen seiner dunklen Hautfarbe wird er der „Mohr von Venedig“ genannt. Er schlägt zwar die Türken in der Schlacht von Lepanto und verdrängt sie aus dem nördlichen Mittelmeer, wird selbst aber Opfer seiner krankhaften Eifersucht. Ein guter Nährboden für Intriganten, wie den teuflischen Jago, der den „Mohren“ schließlich zum Mörder seiner geliebten Frau Desdemona und seiner selbst werden lässt. Jago ist der alles bewegende Dämon, dennoch ist Othello der eigentlich Handelnde, darum ist er auch der Namensgeber des Dramas und später auch der gleichnamigen Oper “Otello”.

Othello ist bei Shakespeare hoch angesehen, aber schwarz, darum auch despektierlich-diskriminierend „Mohr von Venedig“ genannt. Er hat bereits vor Beginn des Stücks heimlich die Tochter des venezianischen Senators, Desdemona, geheiratet. Sie liebt ihn und Betrug ist für sie unvorstellbar.

Sein Antagonist Jago ist eifersüchtig auf Othello. Er ist mit Emilia, der Kammerzofe von Desdemona verheiratet und der klassische Bösewicht: boshaft, intrigant, eifersüchtig dazu. Besonders missgünstig wird er, als Othello Cassio zum Leutnant befördert. Nicht ohne Grund, denn der ist gebildet, gutaussehend und noch dazu höflich.

Die Geschichte zeigt tiefe negative Emotionen. Othello befördert Cassio anstatt Jago zu seinem persönlichen Leutnant. Damit weckt er Jagos Neid, Hass und Rachegelüste. Seine Ehe mit Desdemona trifft auf den heftigsten Widerstand von deren Vater. Ein Schwarzer als Schwiegersohn erscheint undenkbar. Die Rassendiskriminierung ist offensichtlich keine Erfindung der Neuzeit.

Othello ist ein Stück über Rache. Jago kämpft mit psychologischen Waffen gegen Othello, mit Unruhestiften in der Truppe, mit subtilen Sabotageakten gegen den Emporkömmling Cassio und den unerfahrenen jungen Soldaten Roderigo, bis sie mit Waffen aufeinander losgehen – im Rausch der alkoholisierten Mutproben. Jago triggert den immer unsicher werdenden Othello mit Andeutungen über ein Verhältnis Cassios mit Desdemona. Ein untergeschobenes Taschentuch dient als Beweis der Untreue Desdemonas, als Jago schwört, er habe es in Cassios Händen gesehen. Verunsichert, traurig, weil seine Träume sich anscheinend in Luft auslösen schwört Othello, blutige Rache zu nehmen.

Ist sich Othello seiner heiklen Stellung bewusst und befürchtet unterbewusst stets das Ende seines Glücks? Glaubt er, die Liebe einer weißen Frau zu ihm beruhe letztlich auf Berechnung, die jederzeit in Abneigung umschlagen könne. Warum nimmt er Jagos perfide Andeutungen geradezu gierig auf?

Wie nun Desdemona und Othello zusammenkamen und ihre gemeinsame Flucht aus Venedig, erschien Arrito Boito als Librettist der Oper “Otello“ nicht wichtig. Und so beginnt Verdi mit einem gewaltigen akustischen Einschnitt, einer Klangexplosion, wie es kaum eine zweite in der Operngeschichte gibt: Otellos Flotte droht unterzugehen, Menschen werden getötet. “Die Hölle tut sich auf, ein Sturm auf hoher See, die Wellen schlagen, es blitzt und donnert, man hört Kanonenschüsse und Kriegslärm. Die Anfangssituation ist ein Krieg, ein gesellschaftlich beauftragtes, politisch motiviertes Massenmorden, das die Opfer nennt und ihren Tod feiert. Am Ende der Oper steht ein Kapitalverbrechen: Ein Mann bringt in den eigenen vier Wänden seine Frau um – und tötet danach sich selbst.”

Psychologisch interessant ist der Wandel eines treuen und liebevollen Ehemanns zu einem Mörder und Selbstmörder. Ist es zunächst die persönliche Situation, die Herkunft oder Hautfarbe die zu einer nicht mehr verkraftbaren Überforderung führen können, so kommt noch die Traumatisierung durch den Krieg hinzu. Das macht Verdis Oper hoch aktuell. Krieg wirkt dauerhaft nach im Zivilleben, in den Familien der Soldat:innen beider Seiten, im politischen Diskurs, in der Geschichtsschreibung.

Auch „Otello“ im Darmstädter Staatstheater holt die Handlung aus dem privaten in den öffentlichen Raum. Stark fragmentiert, als Mitmachtheater konzipiert, hoch modern als interaktives Computerspiel mit Avataren angelegt. Eine brennende Welt, in der nicht das innere Chaos eines einzelnen Menschen zählt, sondern quasi Jeder mit Jedem kämpft.

Der Regisseur Dittrich hat die Oper Otello als ein gesamt gesellschaftliches Problem angelegt. Eine Zustandsbeschreibung, die sich weit von den bisher genannten psychologischen Aussagen entfernt.

Die Oper startet in einem Großraumbüro. Leute sortieren Akten. Da läutet ein Pausenzeichen. Die Büroangestellten flüchten sich mit ihren Gedanken, Gefühlen in ein Computerspiel, in dessen Zentrum als Held Otello steht. Er erobert Zypern. Auch das Publikum im Saal darf über den weiteren Verlauf des Spiels mit Smartphone abstimmen. Soll eine Kirche gebaut werden? Sollen die Einwohner überfallen werden?

Das Computerspiel zeigt den Kolonialismus der Vergangenheit auf. Den Willen, andere Kulturen zu unterwerfen. Darin waren die Europäer sehr gut. Otello hält einen Globus in der Hand. Für den Eroberer bedeutet er die Welt, für Desdemona die böse Vorahnung. Denn ihr Kleid ist von Anfang an blutbefleckt. Ahnt sie ihren Tod bereits in der Liebesszene mit Otello voraus? Braucht es in dieser Konstellation aus Gewalt durch den Eroberer überhaupt noch Jago und dessen Dämonisierung? Jagos Einfluss auf Otello wirkt in diesem Setting eher bescheiden. Ist Otello also ein unverstandener Mann? Kein Opfer von eingeflüsterten Dämonen, sondern ein willentlich handelnder Täter? Diese Idee könnte der Zuschauer schon bekommen.

Im zweiten Teil ist die Bürogesellschaft zerstört. Die Computerspiele haben die Büroleute verrückt gemacht. Einige sind zu, auf die Bildschirme starrenden, Zombies geworden. Dem Computer wird mehr geglaubt, als dem eigenen Empfinden. Dies ist ein moderner Blick auf eine zerrissene Gesellschaft. Zurück bleibt ein Computerspiel mit Fehlern. Es ist in Auflösung begriffen. Ist Otellos Tötung der Desdemona nur ein ‚Bug‘, ein Fehler im System?

Im Chaos liegt auch Schönheit. So denkt sich die Regie. Wenn Desdemona und Emilia die Körper tauschen, dann kann Schönheit erhalten bleiben und es einen Neuanfang geben. Also warum sollten nicht Desdemona und Emilia (Dienerin von Desdemona) die Körper tauschen? Im Computerspiel ist das möglich. So bringt Otello die Dienerin im Kleid der Desdemona um. Ist das ein besserer Schluss? Die Regie zweifelt und lässt die Oper neu starten. Als Computerspieler hat man immer die Möglichkeit das Spiel noch einmal von vorne anzufangen. Vielleicht mit einem anderen Ende?

Danke für die zahlreichen Anregungen an den Briefeschreiber. Gerne können Sie es ihm gleichtun und uns auch Ihre Anregungen und Gedankengänge schreiben!

Danke an das Bild mit dem Wunsch nach Frieden und Antidiskriminierung an John Hain auf Pixabay!