Du betrachtest gerade „Seid nett zu Mr. Sloane“ Staatstheater Darmstadt – Tabuthemen schockieren

Kennen Sie noch die „schrecklich nette Familie“ rund um Al Bundy? Es ging um einen frustrierten, genervten Familienvater mittleren Alters. Und genau so eine nervende Familie scheint es auch zu sein, in die Mr. Sloane in „Seid nett zu Mr. Sloane“ geraten ist. Um ihn herum gibt es eine liebeshungrige Kate mit Mutterkomplex, ihren Bruder Ed, der auf Lack und Leder steht und deren verkalkten, incontinenten Vater. Mittendrin Mr. Sloane, der diese kleinbürgerliche Welt gut zu nutzen weiß. Die Texte des britischen Dramatikers Joe Orton gelten als Klassiker der Komödienliteratur, die der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Selbstherrlichkeit und Überheblichkeit meisterhaft den Spiegel vorhalten.

Sehr geehrte Redaktion des UniWehrsEL,

Über Joe Orten sprachen wir bereits in unserem Beitrag „Was der Butler sah„. Seine Stücke haben in ihrer Komik und ihrem Wahnsinn bis heute nichts von ihrer bösen Vergnüglichkeit verloren; auch Mr. Sloane erscheint verkommen und amoralisch. Mit „Seid nett zu Mr. Sloane“ geht Darmstadts Joe Orton-Trilogie in die zweite Runde.

Also wieder erscheint ein Skandalstück. Hatte ich erst in Frankfurt das „Dezemberhighlight Puch and Judy“ beschrieben, in dem eifrig Horror-Slapstick geboten wird, so wende ich mich jetzt mit großem Interesse oder auch Grauen dem Stück „Seid nett zu Mr. Sloane“ im Staatstheater Darmstadt zu, das von Marlon Tarnow inszeniert wurde.

Im Programmheft wird der Zuschauer bereits darauf vorbereitet, dass ein Tabuthema – „Sex im Altersheim“ – behandelt wird. Ich möchte an dieser Stelle einen Appell an die Leser richten: Seien Sie offen für das Thema Sexualität im Alter und betrachten Sie die dargestellten Konflikte aus einer menschlichen oder wenn es Ihnen lieber ist, einer tierischen Perspektive!

Denken Sie dabei an die animalischen Kräfte, die das Leben des Menschen antreiben. Stellen Sie sich Ihre Begierden, Ihr Verlangen und ihre Sehnsucht nach menschlicher Nähe vor. Diese grundlegenden menschlichen Bedürfnisse nur jungen Leuten zuzugestehen, ist gesellschaftlich verlogen.

Die Regie von Marlon Tarnow weigert sich, das Stück Mr. Sloane als einfache „harmlose“ Klamotte aus den 1960er Jahren auf die Bühne zu bringen. Mit dem Thema, wie geht die Gesellschaft mit Sex im Alter in einer immer älter werdenden Gesellschaft um, hat die Regie ein neues Tabuthema aufgedeckt, welches heute so brisant ist wie damals zur Entstehung des Stücks die Frage, dürfen Männer andere Männer lieben? Darf ein alter Mann einen jungen Mann sexuell begehren?

So stellt Marlon Tarnow nun die Frage: Darf ein alter Mensch weiterhin seinem sexuellen Verlangen nachgehen, ohne dabei von der Gesellschaft als ‚pervers‘ oder ‚Lüstling‘ angesehen zu werden? Gibt es für sexuelles Verlangen eine Altersgrenze an der man aufhört, dieses zu empfinden? (Dazu das Städelbild von Alter Bauer und junges Mädchen von Wilhelm Leibl)

Dazu können Sie auch gerne unseren Beitrag zu „Ungelebte Sehnsüchte im Garten“ lesen. Ein alter Mann und eine junge Frau, ein beliebtes Komödienmotiv, konnte man im Bockenheimer Depot einmal ganz anders und überraschend erleben. Die als „erotischer Bilderbogen in der Art eines Kammerspiels“ angekündigte Oper „In seinem Garten liebt Don Perlimplín Belisa“ bietet ein selten gespieltes Werk von Wolfgang Fortner (1907-1987) nach Frederico Garcia Lorca.

Klassenkampf zwischen den Generationen trifft auf das Thema „Jung gegen Alt“

Das Stück um Mr. Sloane stellt den Klassenkampf zwischen den Generationen dar: Die Bewohner des (Alters)-Heims befinden sich im Greisenalter, während Mr. Sloane als junger, dynamischer „Hüpfer“ auftritt. Ed, Kath und Kamp sind zwischen 70 bis 80 Jahre alt. Dieser Gegensatz spiegelt das gesellschaftliche Spannungsfeld „Jung gegen Alt“ wider. In seiner Zuspitzung auf Jung und Alt stellt Marlon Tarnow fest, dass sich nur alte Menschen ein Haus in Deutschland leisten können. Manche alten Menschen, wie beispielsweise Kamp, haben das Geld und die Macht, sich junge Menschen zu leisten. Mr. Sloane wird im Text als Waise bezeichnet, steht aber hier stellvertretend für eine nur vermeintlich junge Generation – dieser Sloane ist irgendwas zwischen Mitte 30 und Anfang 40 – die darauf wartet, dass die alte Generation endlich abtritt, damit die nicht mehr ganz so junge Generation endlich ans Erbe kommt. Diese Andeutung der Regie von Marlon Tarnow beschreibt eine Horrorvorstellung der alten Generation. Sie wird nicht geliebt um ihrer Selbstwillen, sondern wegen der Moneten.

Die junge Generation hat keine Chance durch eigene Kraft ans Haus zu kommen und muss sich sozusagen den eigenen Aufstieg durch sexuellen Charme und das Ausnützen des eigenen Körpers selbst schaffen. Mit der Thematisierung des Alters spielt die Regie auf die Vermögensungleichheit in der deutschen Klassengesellschaft an und wie schwierig es ist, in der heutigen Zeit den gleichen Lebensstandard zu erreichen wie die Generationen davor. So ist zu mindestens eine berechtigte oder auch (nicht völlig aus der Luft gegriffene) Angst der jüngeren Generation. Was ist wenn die Alten alle Vermögenswerte im Altersheim aufbrauchen und für die Jüngeren nichts übrigbleibt?

Mit großen neidischen Augen blickt also dieser junge Sloane auf das Haus und den vermeintlichen Reichtum der Mittelklasse von Ed, Kath und Kamp. So schön mit viel Platz, eigenem Garten, eigenem Zimmer hat es der junge Sloane noch nie. Warum also nicht die drei Alten ausnutzen?

In einer alternden Gesellschaft wird der junge Mensch zur heißbegehten Ware. Denn schließlich ist eines Gewiss „alt wird man sowieso“. Deshalb wird auch eine Person in den 30ern, die aus Sicht der 1960er Jahre, in denen das Stück ursprünglich spielte, uralt war – zu einer – aus der 2025er Sichtweise – jungen Person, mit Mitte 30 bis Anfang 40 Jahren. In dieser Logik wird aus der alten Jungfer Kath mit Mitte 40 Jahren, eine 80-jährige Frau mit großer Lust auf junges Fleisch. Diese Beschreibung ist eine gewollte Zuspitzung und greift die spannende Elemente des Horrorfilms auf. Indem die Figuren des Ed, Kath und Kamp in alte Menschen verwandelt werden, greift die Inszenierung ein Subgenre des Horrorfilms auf: den Body (Körper)-Horror. Bei diesem Subgenre geht es um die verstörende, groteske Transformation des eigenen Körpers. Gezeigt wird der Verfall des eigenen Körpers anstelle ein Monster von Außen zu zeigen. Die Bedrohung kommt von Innen, z.B. durch Mutation, Krankheiten, Parasiten. Dieses Subgenre spielt mit den Urängsten der Menschen vor dem eigenen Kontrollverlust, einer unheilbaren, voranschreitenden Krankheit und der Zerbrechlichkeit des menschlichen Körpers.

Zu Body-Horror lesen Sie bitte auch unseren Beitrag zum Film „The Substance„. Die Hauptfigur Elizabeth erlebt eine trügerische Ekstase durch ein geheimnisvolles Medikament, das ihr Jugend und Schönheit zurückgibt, aber auch in einen gefährlichen Rausch führt. Der Film zeigt eindrucksvoll, wie der Drang nach Selbstoptimierung und äußerer Perfektion zu einem zerstörerischen Kreislauf werden kann. Diese Darstellung lädt den Zuschauer ein, über die Werte und Ideale von heute nachzudenken und die Gefahren der Besessenheit mit Äußerlichkeiten zu erkennen.

Wie werden Tabuthemen wie Sex im Alter und Body‑Horror auf der Bühne inszeniert?

In den 1960er‑Jahren war ein sexuelles Verhältnis zwischen einem alten Mann wie Ed und einem jungen Mann wie Sloane in England strafbar. Heute, in einer immer älter werdenden Gesellschaft, erscheint die Frage, ob ältere Menschen ebenfalls sexuelle Bedürfnisse haben, nicht mehr absurd, sondern notwendig. Die Regie verortet dieses Thema geschickt im Kontext von „Das Tier im Menschen„.

Wie ein Leitwolf, der seine Position durch Dominanz und Schutz im Rudel sichert, zeigt Mr. Sloan in der Schlussszene sein Alphatier‑Verhalten. Psychologisch lässt sich der Mord an Kemp als Befreiungsschlag deuten; es ist ein Ritual der Machtübernahme, bei dem der Täter Mr. Sloane die Rolle des Rudelführers übernimmt. Dazu passt auch unser Beitrag „Der Wolf in Märchen und Mythen – Analyse C. G. Jung)

Eine weitere Idee, welche die Inszenierung nutzt, kommt auch im UniWehrsEL-Beitrag Sommernachtraum am Theater Meiningen vor, wo die Figuren ihren (tierischen) Instinkten nachgingen. Dort verliebte sich Titania unsterblich in den Handwerker Zettel, der den Kopf eines Esels trug. Diese für Außenstehende absurd-wirkende Liebesbeziehung verdeutlicht, dass das Begehren nicht an besondere Merkmale gebunden ist, sondern sich in tierischen Metaphern ausdrücken kann. Anders als die verzauberte Titania, stürzt sich Kath – bereits in ihren 80ern – auf den vermeintlich wunderschönen Jüngling Mr. Sloane.

In der Inszenierung ist Mr. Sloan nicht ein jugendlicher 17‑Jähriger, sondern eher ein Mann in seinen mittleren 30ern, dessen ’scheinbare‘ Alterslosigkeit den Kontrast zu Kaths fortgeschrittenem Verfall noch stärker betont. Eine Alte, die an einen Knaben herantritt, erschien der Regie von Marlon Tarnow wohl dann doch aus heutiger Sicht zu heftig, zumal das Thema Kindesmissbrauch heute anders gesellschaftlich betrachtetet wird als früher.

Welche symbolischen und gesellschaftlichen Botschaften steckt hinter den provokanten Szenen?

Die erste provokante Szene, in der der alte Vater Kemp in die Hose macht und anschließend sein Sekret an die Wand schmiert, wirkt zunächst dement, doch das Handeln ist eine bewusste Schikane gegenüber seiner Tochter Kath. Wer seinen eigenen Körper nicht kontrollieren kann wie Kamp, hat auch Angst vor jeder Veränderung. Deshalb lehnt Kemp den jungen Sloane, den er als einen ‚Alien‘ betrachtet, ab.

Kemp hat eine tiefe Urangst vor dem Unbekannten (gerne können Sie dazu auch den Uncanny Valley Effekt im UniWehrsEL nachlesen).

Das Spielen mit ekelhaften Effekten gehört ebenfalls zum Subgenre Bodyhorror. Es gibt in dem Sinne auch keine idealisierte Verführungsszene wie in den 1960er Jahren zwischen Kath und Mr. Sloane, sondern Kath stürzt sich auf ihn, wie es heute in pornografischen Filmen gezeigt wird. Dieser vermeintliche Standardsex mit einem vorgeschriebenen, schematischen Ablauf wird an dieser Stelle dem Publikum vorgeführt. Das ist nicht erotisch, nicht anziehend, sondern erinnert stark an den Trieb eines Hundes, der sich seine Partnerin einfach nimmt. Es ist einfach Körperlichkeit.

Durch die Masken von Alter- und Jugend erhält diese Darstellung einen künstlerischen Tatsch, weil bei Standardpornografie nur formschöne Menschen im Alter zwischen 18 bis 25 Jahren mit jugendlichen Körpern gezeigt werden.

Die Sexszenen dienen bewusst als Provokation: Durch die mechanische, fast industriell wirkende Choreografie wird die menschliche Sexualität zur Austauschware der Pornoindustrie. Die Darstellung des homoerotischen Akts als rein funktionales „von‑hinten‑Klischee“ verstärkt den Eindruck von Austauschbarkeit des Partners und fehlender emotionaler Bindung. Damit kritisiert das Stück nicht nur die Tabuisierung von Sex im Alter, sondern auch die Art und Weise, wie moderne Pornografie Sexualität zu einer standardisierten, mechanisch-emotionslosen Performance reduziert. 

Später beißt Kemp Mr. Sloane ins Bein – ein tierischer Reflex, der die Rivalität zwischen den Generationen auf animalische Art verdeutlicht. Der Mord an Kemp, der bewusst auf den Horrorfilm „Texas Chain‑Sawsaw“ von 1974 anspielt,

zeigt Mr. Sloan mit einer Kettensäge in der Hand, ein weises Sofa wird blutrot und vermeintliche Leichenteile fliegen über die Bühne. Diese Szene symbolisiert den Bruch mit alten Tabus und die Rohheit animalischer Triebe. Die Szene kann aber auch für eine Selbstermächtigung der jungen Generation angesehen werden, sich der Alten zu entledigen! Dies ist auf äußerst drastische Weise bildlich umgesetzt.

An dieser Stelle sei angemerkt, dass die Aufführung in der Interpretation von Marlon Tarnow die Gemüter des vorwiegend älteren Publikums sehr erhitzte. In der Premiere verließen rund 40 Zuschauer, die Vorstellung vorzeitig. In meiner Vorstellung verließen rund 15 Zuschauer den Raum nach den beschriebenen Sexszenen.

Das Stück zwingt das Publikum, über veraltete Vorstellungen von Sexualität im Alter nachzudenken. Mr. Sloan ist kein böser Mensch, sondern ein Produkt seiner Umgebung – ein junger Mann, der in einem System aus Klassenkampf, Schikane und tierischen Instinkten überleben muss.

Danke für diesen mutigen Beitrag und Bild von Ralphs_Fotos auf Pixabay, Bild von Engin_Akyurt auf Pixabay Image by anaterate from Pixabay, Image by kalhh from Pixabay

  • Beitrags-Kategorie:Blog
  • Beitrag zuletzt geändert am:21. Dezember 2025
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