„Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin.“ Bertolt Brecht (angeblich)
Dieses Zitat ist ein beliebter Slogan der Friedensbewegung. Es wurde durch einen Artikel der Autorin Charlotte Keyes ab 1966 in Amerika in der Version „Suppose They Gave a War and No One Came“ berühmt. Es kam Ende der 1970er Jahren auch in Deutschland auf und wurde irrtümlich Bertolt Brecht zugeordnet, so erfährt man es bei dem Zitatforscher Gerald Krieghofer (dazu auch unser Beitrag über Kuckuckszitate). Gerade in Zeiten der Krise, die wir gerade erleben, hat dieses Zitat, von wem es auch immer stammen möge, eine große Bedeutung. Aber an Weihnachten gibt es auch die kleinen, persönlichen Krisen, die persönlichen Bedeutungen, wenn in der Familie Krieg ausgerufen wird, mit der Folge, einer oder eine wartet, und keiner kommt. Darüber habe ich mir meine Gedanken gemacht.

An alle die, die sich jetzt angesprochen fühlen, stellvertretend:
Betreff: Weihnachten, Warten & zwei, die vielleicht doch kommen
Liebe ihr zwei,

ich übe mich dieses Jahr in einer großen Kunst: dem Warten.
Nicht irgendeinem Warten – eher so einem literarischen. Ihr wisst schon:
Da sitzt jemand, etwas älter inzwischen, mit Tee (oder Glühwein), blickt zur Tür und denkt: Vielleicht heute.
Und dann denkt sie es morgen wieder.Keine Sorge, ich bin nicht tragisch – eher gut gelaunt beharrlich.
Ein bisschen wie bei Samuel Beckett: Alle reden vom Kommen, und genau darin liegt die Hoffnung.Der Unterschied: Bei mir gibt es Kekse. Und Heizung. Und Weihnachtsmusik, die man notfalls leiser drehen kann.
In meiner Vorstellung hängt an der Wand ein Bild:
eine Frau am Fenster, draußen Winterlicht, drinnen Wärme.
Caspar David Friedrich lässt grüßen – nur dass die Frau gelegentlich lacht
und sich denkt: Wenn sie kommen, schön. Wenn nicht, auch. Aber ich lade sie ein.Also hier ist sie, meine Einladung:
Kommt zu Weihnachten. Für Suppe, für Chaos, für ein paar gute Geschichten.
Oder kommt kurz. Oder gar nicht – aber dann wisst ihr wenigstens,
dass hier jemand wartet, hofft, sich freut. Ganz ohne Drama.Ich umarme euch aus der Ferne
und halte den Platz frei am Tisch – rein vorsorglich.In Liebe
Mama, Oma, (klar geht auch Opa, Papa oder Onkel, wie auch immer Ihr sie nennen mögt!)
Da nun einige Leute ins Spiel gebracht wurden, die mit „Warten“, „Warten-Lassen“, „Sehnsucht“, „Gemeinschaft“, „Hoffnung“, „Krise“ und „Würde/Stolz“ verbunden sind, verleihe ich kurz der erwähnten Literatur Bedeutung:
1. Samuel Beckett – Warten auf Godot (1952)
Kein Weihnachten, keine Familie – aber das Ur-Motiv des Wartens
Zwei Figuren warten auf jemanden, der angekündigt ist – und nicht kommt.
Alle kennen das Motiv: Hoffnung, Absurdität, Würde im Warten.

Beim Wort ‚Warten‘ kommt dem theateraffinen Leser sofort Samuel Becketts „Warten auf Godot“ in den Sinn. In diesem Stück wird das Warten selbst zum zentralen Motiv, thematisiert es doch die Absurdität des Lebens und die Ungewissheit über den eigenen Todeszeitpunkt. Wladimir und Estragon warten vergeblich auf Godot, der nie erscheint (Auszug aus unserem Beitrag zur „Todessehnsucht als zentrales Motiv, nicht nur bei den Manns).
2. Anton Tschechow – Eltern, die warten (mehrere Stücke) – z. B. „Der Kirschgarten“, „Drei Schwestern“
Hier warten ältere Menschen: auf Rückkehr, auf Nähe, auf ein „früher war es anders“. Das hat weniger mit Weihnachten zu tun, als mit Generationenspannung, Kinder gehen eigene Wege, Eltern bleiben mit Hoffnung zurück – sehr feinsinnig, sehr menschlich – aber weniger lustig.

„Die drei Schwestern“ am Schauspiel Meiningen empfangen den Zuschauer mit einem Eisberg auf der Bühne. Schnee hat eine besondere Wirkung auf den Betrachter. Steht er doch symbolisch für die Kälte. Mit Kälte kann das Wetter gemeint sein. Dieses ist ungemütlich. Politisch spricht man von sozialer Kälte. Dies bedeutet, dass die Gesellschaft sich herzlos gegenüber dem Individuum zeigt. Dieses ist die Botschaft der Regie für mich. Was aber diese Botschaft für das Individuum im einzelnen bedeutet, muss es selbst deuten (Auszug aus unserem Beitrag Anton Tschechow – Die drei Schwestern).
3. Charles Dickens – A Christmas Carol (1843)
Das berühmteste Weihnachtsmotiv – aber umgekehrt. Hier ist es die Gemeinschaft, die wartet, ob jemand doch noch kommt. Familie, Tisch, Wärme – jemand fehlt. Aber: Niemand wartet explizit auf erwachsene Kinder. Weihnachten ist Ort der Möglichkeit, nicht der Pflicht!
Eine „Weihnachtsgeschichte“ von Charles Dickens, auch bekannt unter dem Originaltitel „A Christmas Carol“, erstmals 1843 veröffentlicht, erzählt die Geschichte von Ebenezer Scrooge, einem geizigen und verbitterten alten Mann, der Weihnachten verachtet. Ihm erscheinen drei „Weihnachtsgeister“, die die ihn reflektieren und erkennen lassen, wie seine Handlungen andere Menschen beeinflussen.
4. Oper: Humperdinck – Hänsel und Gretel

Kinder wurden aus Armut von den Eltern in den Wald gebracht. Nun warten die Eltern sehnsüchtig auf ihre Rückkehr. Ähnlich romantisch wie düster findet sich der Wald in den Märchen der Brüder Grimm wieder. Hier wird er oft als Ort der Verwandlung und Prüfung dargestellt – ein Raum, in dem Figuren wie Hänsel und Gretel oder Rotkäppchen mit ihren Ängsten konfrontiert werden, aber auch Mut und Selbstständigkeit erlangen. Der Wald ist sowohl Bedrohung als auch Zuflucht, ein lebendiger Mikrokosmos, der das Leben spiegelt (Auszug aus unserem Beitrag „Sehnsuchtsorte„).

Eine wartende, humorvolle, würdevolle ältere Frau, deren erwachsene Kinder/Enkelkinder nicht kommen wollen, ist kein Klischee, sondern fast schon eine moderne künstlerische Figur. Erwähnt wurde im obigen Brief an die zwei, die vielleicht doch kommen, auch Caspar David Friedrich und die Frau am Fenster.
„Abends im Hotel dann beim Blick aus dem Fenster, taucht vor meinem inneren Auge blitzartig das Bild von der Frau am Fenster auf. Ich fühle mich der Frau auf dem Bild irgendwie nahe. Es ist vor allem ihre Haltung, mit der sie aus dem Fenster schaut, die mich gefangen nimmt. … Es ist Sehnsucht, die ich da fühle. Sehnsucht nach Weite, nicht Todessehnsucht, Sehnsucht nach dem Verlassen des engen Rahmens, der vom Alltag im Rücken gezogen wird und den der Fensterrahmen symbolisiert“ (Auszug aus „Kunst und Künstler in der Betrachtung – Caspar David Friedrich“) .

Die Sache mit dem Tisch am Fenster – eine Geschichte über die Hoffnung
Die Frau stellte den Tisch wie jedes Jahr ans Fenster.
Nicht, weil man dort besser aß, sondern weil man dort besser hoffen konnte.Sie war alt genug, um das Wort alt nicht mehr schlimm zu finden. Alt hieß: Sie wusste, wo die guten Gläser standen, welche Lieder man auch schief singen durfte, und dass Weihnachten nicht davon abhing, wer pünktlich erschien.
Sie stellte fünf Teller hin. Nicht aus Berechnung – eher aus Höflichkeit. Man wusste ja nie.
Dann band sie das Haarband um, das schon so viele Feste gesehen hatte, dass es über nichts mehr erschrak. Die Suppe köchelte, als hätte sie Zeit. Der Kamin-Ofen brummte zustimmend. Draußen war der Himmel winterlich grau, aber nicht beleidigt.
Die Kinder – und deren Kinder – waren inzwischen erwachsen genug, um Pläne zu haben. Wichtige Pläne. Pläne mit Freunden, mit Zügen, mit Erschöpfung. Manchmal auch mit dem Bedürfnis, einfach irgendwo nicht zu sein. Das verstand sie. Sie hatte selbst sich einmal jung gefühlt. Eigentlich zu jung, um eine „Oma“ zu sein.
Sie stellte trotzdem ihre Lieblingskekse auf den Tisch. „Man kann ja naschen“, sagte sie laut. Für sich. Für die Luft.
An der Wand hing ein Bild: Eine Frau am Fenster, gemalt in sanften Farben. Man wusste nicht genau, ob sie wartete oder nur schaute. Die Frau im Zimmer fand das tröstlich. Nicht alles musste entschieden sein.
Als es dunkel wurde, zündete sie die Kerzen an. Jeder hatte seinen eigenen Willen, und sie mochte das. Weihnachten durfte ruhig ein bisschen eigenständig sein.
Sie setzte sich. Aß Suppe. Die gute Nudelsuppe. Tradition. Davon aß sie zweimal sogar.
Zwischendurch lachte sie über einen Gedanken, eine wunderschönde Erinnerung, die sie niemandem erklären musste.Vielleicht würden sie kommen. Vielleicht nicht. Beides war möglich – und beides würde gehen.
Später schrieb sie eine kurze Nachricht:
Der Tisch steht. Die Suppe war gut. Ich bin da.Dann lehnte sie sich zurück, sah den Kerzen zu und dachte: Es ist ein gutes Fest, wenn man niemanden festhalten muss. Aber schön wäre es schon.
Und der Tisch am Fenster blieb gedeckt. Nicht aus Traurigkeit. Sondern aus Hoffnung, die wusste, wie man wartet, ohne zu frieren.
Zeit, danke zu sagen!
Danke an meine beiden K’s und die MIT’s dafür, dass ich sie lieben darf!
Danke auch an alle, die an Weihnachten an mich denken und mit denen ich in diesem gemeinsamen Jahr wieder Zeit, in Gedanken oder auch Real, verbringen durfte.
Danke an meine Studierenden und die UniWehrsEL-Lesenden und Schreibenden, vor allem dem Kulturbotschafter des UniWehrsEL!
Und ein Dank an KI, die ich jetzt ausprobiere. Besonders lustig finde ich den Husky, der sich nach Wurst sehnt und damit den „Rubikon überschreiten möchte“, frei nach dem Maler Wilhelm Trübner.

Der hat mit Cäsar am Rubikon (zu sehen in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe) ein Bild geschaffen, das weit mehr ist als ein gewöhnliches Stillleben. Auf einem massiven Holztisch steht eine Metallschale mit vier verführerisch glänzenden Würsten – ein für die damalige Zeit höchst ungewöhnliches Motiv, das jedoch durch den Namen Cäsar, der Dogge, eine völlig neue Bedeutung erhält.
Wie immer auch an Pixabay, denen ich viele zauberhafte untermalende Fotos verdanke!
