Du betrachtest gerade Anton Tschechow “Die drei Schwestern” oder “Dort, wo du nicht bist, ist das Glück”

„Dort, wo du nicht bist, ist das Glück“, so lautet ein Aphorismus von Georg Philipp Schmidt von Lübeck (1766 – 1849), genannt Schmidt von Lübeck, norddeutscher Lyriker, Arzt und Bankleiter. Das passt gut zu einem der berühmtesten Theaterstücke von Anton Tschechow. „Drei Schwestern“ streben vergeblich nach Glück. Mit dem Bruder in einer Provinzstadt lebend wird der erhoffte Umzug nach „Moskau“ zum Synonym für Glück, Heimat, Erfüllung aller Wünsche. In vier Akten bleibt die Suche nach Glück vergeblich, denn keine von ihnen gelangt nach „Moskau“. Ein durchaus realistisch-poetisches existenzialistisches Stück, geschrieben in Jalta 1900 für das Moskauer Künstlertheater, wo schon „Die Möwe“ und „Onkel Wanja“ Triumphe feierten. In Jalta auf der Krim lebte Tschechow, weil er an Lungentuberkulose litt. Die Schauspielerin Olga Knipper war seine Frau und begleitete ihn zur Kur ins deutsche Badenweiler, wo er am 15. Juli 1904 starb. Beerdigt ist er in Moskau. Auch heute wird es auf zahlreichen Bühnen aufgeführt. Ein Leserbrief beschreibt uns die Aufführung am Theater in Meiningen, mit herzlichem Dank.

Liebes UniWehrsEL,

Die drei Schwestern” am Schauspiel Meiningen empfangen den Zuschauer mit einem Eisberg auf der Bühne. Schnee hat eine besondere Wirkung auf den Betrachter. Steht er doch symbolisch für die Kälte. Mit Kälte kann das Wetter gemeint sein. Dieses ist ungemütlich. Politisch spricht man von sozialer Kälte. Dies bedeutet, dass die Gesellschaft sich herzlos gegenüber dem Individuum zeigt. Dieses ist die Botschaft der Regie für mich. Was aber diese Botschaft für das Individuum im einzelnen bedeutet, muss es selbst deuten.

Sicherlich ist dies eher ironisch gemeint, wenn diese drei Frauen gegen eine Gesellschaft kämpfen, die ihnen bestimmte Rollen zudenkt. Alle drei Frauen haben von ihren Eltern die bestmögliche Erziehung erhalten, um an der Seite eines erfolgreichen Mannes zu bestehen. Für sie krankt die Gesellschaft daran, keine erfolgreichen Männerauf dem Lande aufzuweisen. Geht es doch im Leben der drei Schwestern weniger darum, sich alleine ein schönes Leben zu gestalten, sondern Männer sind dazu da, der Frau das Leben schön zu gestalten. Aber die Frau muss Opfer bringen, – alle Wünsche werden für die Suche nach dem richtigen Mann zurückgestellt.

Olga, Mascha und Irina projizieren ihre Träume auf den Bruder. Er soll Professor in Moskau werden. In Moskau, dem Sehnsuchtsort dieser Frauen, soll alles anders werden. Doch der Bruder entscheidet sich anders. Er heiratet, aus Sicht der drei Schwestern unter seinem Stand, einen “Bauerntrampel”. Eine Frau, im Gegensatz zu den drei Schwestern, ohne Bildung und Geist. Mit dieser Frau an seiner Seite wird der Bruder nicht das erhoffte Genie, sondern gibt sich mit einer einfachen Stelle in der Verwaltung zufrieden. Der mangelnde Ehrgeiz wird von nun an am Bruder kritisiert. Wie kann ein Aufstieg gelingen, wenn er nicht den Willen zum Aufstieg aufweist.

Diese Enttäuschung ist meines Erachtens der psychologische „Wow-Effekt“ dieses Stoffes. Denn anstatt das Leben in die eigenen Hände zu nehmen, wie ich es als Zuschauer:in nun erwarten würde, versinken die Drei in tiefe Trauer. Wieder einmal Enttäuschung über einen Mann, einen Bruder, der ihnen nicht den ih nen zustehenden Erfolg verschafft. Sie empfinden die Gesellschaft als im Stillstand befindlich. Doch es fehlt den drei Frauen irgendwie die Kraft, sich von ihren Träumen zu befreien oder diese zu realisieren. Sie bleiben darin verhaftet.

Dennoch, alle drei Frauen versuchen einen Ausbruch. Die eine stürzt sich in eine aussichtslose Affäre. Die zweite in die Arbeit als Lehrerin. Die dritte will einen hässlichen Mann heiraten. Er wird jedoch vorher erschossen. Nun könnten alle drei zusammen in dem Elternhaus ihren Lebensabend verbringen. Der Bruder hat jedoch aus Mangel an Liebe und Zuwendung das Erbe verspielt.

Überraschenderweise übernimmt ausgerechnet der von ihnen ungeliebte und “schwächelnde Bauerntrampel” das Elternhaus. Da taut sogar der Schnee und im Kühlschrank wird das Bier schal. Aus dem Schneeberg entspringt ein Auto. Diesem entsteigt der Trampel und baut aus Eis und Schnee eine Garage auf. Welch’ eine Metapher für “Auferstanden aus Ruinen” und was für ein Szenenbild – so meine Wow-Asssoziation!

Und welche Ironie des Schicksals. Die drei Schwestern müssen ihr Elternhaus verlassen. In nur fünf Jahren ist das Haus verspielt. Ausgerechnet der Trampel hat es neu erworben. Natürlich mit Hilfe eines reichen Mannes, der sich offenkundig in sie verliebt hat. Für diese Außenseiterin wird der Traum eines reichen Mannes wahr – und das ohne eigenes Zutun. Die Schönheit obsiegt über Dummheit, fast wie im Märchen “Aschenputtel”, muss das den Schwestern vorkommen.

Die drei Schwestern dagegen sind älter geworden und haben nicht das Gefühl, etwas erreicht zu haben. Was haben sie daraus gelern? Harte Arbeit führt nicht zu Erfolg. Zwar wird die eine Schwester Schuldirektorin mit einer Wohnung. Doch war dies nicht ihr Wunsch. Die Sehnsucht nach einem Partner war ihr Herzensglück. Die jüngste Schwester träumt von der glücklichen Ehe. Durch ein Duell ist ihr potentieller Partner tot. Ein anderer Mann traut sich nicht heran. So bleibt sie in der Poststelle hängen, statt auf Bällen in Moskau zu tanzen.

Die dritte Schwester ist verheiratet mit einem Mann, der sie nicht zur Kenntnis nimmt, weil er sein Leben mit Büchern und Selbstbildung vertut. Aus Trotz geht sie eine Affäre ein, mit einem Soldaten. Ihr ist klar, dass die Affäre nur zeitlich begrenzt ist. Aber soll er doch sehen, was er davon hat, sie so zu kränken. Doch das Verlassenwerden schmerzt sie tief. Sie hat zwar einen Partner, aber mit ihm verbindet sie nichts. Dass er sich für sie ändert, ist zwar wünschenswert, aber offensichtlich von ihm nicht vorgesehen.

So bleiben die drei Schwestern letztlich in der Eiszeit sitzen. Ein Happyend scheint ausgeschlossen, und trotzdem taut langsam der Schnee. Die Veränderungen sind für den Zuschauer sichtbar, aber nicht für die drei Schwestern. Sie verharren in ihrem Träumen, auf der Suche nach dem Mann, der sie ins Glück führt.

Fazit: Die Lehre aus den drei Schwestern ist, jeder sollte sein Leben in Eigenregie führen und nicht zu sehr darauf hoffen, dass andere Menschen für einen selbst die richtigen Entscheidungen treffen. Glück beginnt bei einem selbst. Durch eigenes Handeln und eigene Taten. Dennoch muss das Individuelle sich in die Gesellschaft einbinden lassen. Ganz ohne Gesellschaft kann der Mensch nicht bestehen. Doch machen Träume, die ohne Realitätssinn erdacht sind, letztlich glücklich?

Der Wert eines Menschen oder der besagter drei Schwestern sollte aus sich selbst heraus entstehen und nicht an dem Blick zu anderen Menschen hängen. Die drei Schwestern sind erstarrt in ihrer Definition vom Leben in Moskau und da können sie nur durch einen “weißen Ritter auf einem Pferd” (oder umgekehrt) hingelangen. “Männer sind der Schlüssel zum Glück”, so könnte der Glaubenssatz der drei Schwestern lauten. Dass Schlüssel auch zu falschen Türen passen, ist hier offenkundig. Die immense Erwartungshaltung der drei Schwestern kann und will kein Mann erfüllen. Der Bruder will nicht Mittel zum Zweck sein.

In einer Szene offenbart er sich dem Publikum. Die hohen Erwartungen konnte er nicht erfüllen und seine Selbstkontrolle, immer darüber zu schweigen, ist für einen Augenblick dahin. Da steht er für sich selbst ein. Da redet er Tacheles. Doch verhallen die Worte bei den Schwestern. Der Traum von Moskau ist wichtiger, als die tatsächliche Meinung des Bruders.

In dieser Inszenierung verstecken die Männer ihre Gefühle. Sie unterdrücken sie. Immer wenn es ernst wird, kommt der Griff in den Kühlschrank. Alkohol ist die Lösung, seine Meinung für sich zu behalten, und so stolpern die Männer durch die Bühne, wissend (vielleicht auch wollend), diese drei Schwestern nie wieder zu sehen. Die Männer sind alle Soldaten und damit mit der Armee verheiratet.

Die Schwestern sind nur ein Zeitvertreib bis zum nächsten Krieg, der auf die Männer wartet, aber unerbittlich eintritt (wie der Klimawandel, ein bisschen hinkend dieser Vergleich, ich weiß). Die Männer wissen, er wird eintreten, nur nicht den genauen Zeitpunkt Dennoch steht der Krieg wie ein Elefant im Porzellanladen im Raum (an dem Vergleich arbeite ich noch). Nur der Bücherleser kann sich dem Elefanten entziehen. Er bildet sich weiter und vergisst dabei alles andere.

Frank Behnke, der Schauspieldirektor von Meiningen, führt Regie an diesem Theaterabend. Die Inszenierung ist noch bis November zu besuchen.

Übrigens: In einigen zur Zeit laufenden Aufführungen soll die Sehnsucht nach “Moskau” aus gegebenem Anlasse dem Ruf nach “Zuhause” gewichen sein.

Liebe Grüße und ich freue mich über Ihren Kommentar

Danke für die drei Schwestern Bild von jty11117777 auf Pixabay

  • Beitrags-Kategorie:Blog
  • Beitrag zuletzt geändert am:22. Oktober 2024
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