Karen Duve ist eine deutsche Schriftstellerin, deren Werke gleichzeitig faszinieren und abstoßen. Faszinierend ist der „Regenroman“, der in einer Sonderedition schon von außen durch sein ungewöhnliches Format und die Aufmachung Aufmerksamkeit auf sich zieht. Erschienen ist er bei der Büchergilde, mit Illustrationen von Line Hoven. Duve hat zahlreiche Preise eingeheimst wie den Carl-Amery-Literaturpreis, den Düsseldorfer Literaturpreis und den Solothurner Literaturpreis. Sie ist 1961 geboren, lebt in der Märkischen Schweiz und liebt das Reiten auf wilden Pferden in Irland. Passend zu den Beiträgen zu „Apropos Sex“ und „Sancta“ erinnert sich ein UniWehrsEL -Leser an eine interessante Lesung mit Karen Duve mit dem Titel „Das ist kein Liebeslied“.
Liebes UniWehrsEL,
Ich habe meine Erinnerung zu der Lesung „Das ist kein Liebeslied“ hervorgekramt. Die Lesung fand im Rahmen des Festivals „Liebe@Darmstadt“ statt. Anlass war, dass die Deutsche Gesellschaft für Familienplanung, Sexualpädagogik und Sexualberatung Pro familia (50 Jahre) und der Darmstädter Kulturbetrieb Centralstation (20 Jahre) ihre Jubiläen in 2018/2019 „Neun Monate lang Sex“ feierten. Dazu gab es 40 Veranstaltungen rund um das Thema Sex. Die Ankündigung zum Festival habe ich in dem Darmstädter „Kulturmagazin P“ entnommen. Ein Partner des Festivals war das Staatstheater Darmstadt, welches die Lesung des Buches „Das ist kein Liebeslied“ von Karen Duve veranstaltete und sogar kostenlos für alle Leute, die sich für das Thema Sex interessierten anbot.
Statt des Eintrittsgelds konnten die Zuhörer ihr Geld für einen Cocktail an der Bar der Kammerspiele Darmstadt verwenden. Die Lesung machte die Schauspielerin Anabel Möbius. Es war nicht einfach eine Lesung, sondern es gab auch eine Videogestaltung zu dieser Performance. Inhaltlich ging es um eine junge Frau, die mit ihrem Körper klarkommen muss. Nicht sie ist mit ihrem Körper unzufrieden, sondern die anderen Menschen vermitteln ihr das Gefühl, sie sei zu dick und nicht der Norm entsprechend. Aus der Sicht der Mehrheitsgesellschaft ist sie schon seit dem Alter von neun Jahren stark übergewichtig und wird deshalb von den Mitschülern als Mobbingopfer angesehen.
Insbesondere ihr „Schwarm“ lässt sie links liegen. Sie probiert Dinge aus, um ihren Körper zu optimieren. Sie zeigt sich auch für den Zuhörer verletzlich und tröstet sich selbst mit Gummibärchen. Das Buch zeigt einfühlsam wie schwer es für Mädchen und junge Frauen ist, in der Pubertät zu bestehen. Wieder einmal ist das eine „coming-of-age“ Geschichte, diesmal aus der Sicht eines jungen Mädchens.
Irgendwann wird aus dem dicken Mädchen dann eine Frau, die der optischen Norm entspricht. Sie erhält nun anzügliche Blicke und Angebote von Männern. Dies hat sie so nicht erwartet und muss mit ihrem „Dünnsein“ und der neuen Aufmerksamkeit des anderen Geschlechts umgehen lernen.
Am Anfang begibt sie sich mit 30 zu ihrer Jugendliebe in ein Hotel. Dort will sie ihm ihre, seit zwölf Jahren brennende, Liebe gestehen von der Peter Hemstedt nichts ahnt. Im Rückblick erfährt der Zuhörer den inneren Kampf dieser jungen Frau mit sich selbst, der gesellschaftlichen Erwartung an ein „schönes“ Frauenbild, welches durch Frauenzeitschriften und soziale Netzwerke geprägt ist, aber im Roman vordergründig keine Rolle zu spielen scheint.
Es ist schwer für eine Person mit einem „Label“ herumzulaufen. Die Gesellschaftliche Einordnung erfolgt unbewusst bei vielen Menschen über das äußere Erscheinungsbild. Wenn dieses, wie im Falle der Hauptfigur, von dem Idealtypus des schlanken Mädchens abweicht, ist es für die Person, welche vermeintlich nicht der Norm entspricht, sehr schwer mit sich selbst im Reinen zu bleiben und ein positives Selbstbild von sich aufrecht zu erhalten.
Das Stück sollte eine junge Zielgruppe erreichen, die sich mit diesen Problemen der Hauptfigur identifizieren kann. Logischerweise sollte beim Anhören des Textes auch das Bild, welches die Gesellschaft an (junge) Frauen stellt, hinterfragt werden. Willkommen in der „Barbie-Welt“, über Puppe und Film berichteten wir ja in „Barbie und der Wow-Effekt.
Dem Roman ist anzumerken, dass hier das Leistungsprinzip des Kapitalismus auf den Körper einer jungen Frau übertragen wird. Die junge Frau soll sich anstrengen – eine Leistung erbringen – um dem angestrebten Ziel – einem schönen Körper, der aussieht wie die Norm es verlangt, zu entsprechen. Wenn sie dieses Ziel nicht aus eigener Kraft erreicht, wird sie fälschlicher Weise als „faul“ angesehen. Die Leistung ist also alles Menschenmögliche zu unternehmen, um dem angestrebten Schönheitsideal der Zeitschriften zu entsprechen. Wer dies nicht erreicht, kritisiert nicht die Zielvorgabe, sondern sucht den Fehler, wie in diesem Fall die Hauptfigur, bei sich selbst. Das ist für die Gesellschaft praktisch. Denn nun muss der fehlerhafte Mensch Kurse oder Schönheitsprodukte erwerben, um sein Ziel, einer besseren Ausgabe seines „Selbst“ zu finden, zu erreichen.
Dabei verliert er auf dem Weg zum neuen Selbst mit Sicherheit auch positive Eigenschaften, die ihn vorher ausgezeichnet haben, weil er sich nicht so akzeptiert wie er ist, sondern nach einer besseren Ausgabe seines Selbst sucht. Dass dieser Weg kritisch zu sehen ist, zeigt die Andeutung im Roman, dass die Hauptfigur, um Gewicht zu verlieren, in die Magersucht (Bulimie) rutscht. Irgendwie geht es dabei um das Fallen in Extreme, in jeder Hinsicht, durch gesellschaftliche Manipulation. Es sollte nicht Ziel sein, einer anderen Person zu beweisen, wie „hot“ man geworden ist.
Dass die Schauspielerin mit der Figur ringt, zeigte sich auch an der Musikauswahl. Sie singt ein Lied für sich selbst, über ihren inneren Kampf, um die seelische Gesundheit. Es ist der Abschluss der Lesung. Dies soll dem Zuhörer aufzeigen, dass sich die Schauspielerin von dem Traummann innerlich losgelöst hat, nachdem sie ihn im Hotel getroffen hat und nun bereit ist, eine neue Richtung, möglicherweise ohne Selbsthass, einzuschlagen.
Vielleicht hilft den UniWehrsEL-Lesern meine Analyse des Romans „Das ist kein Liebeslied“ besser die Absichten der Autorin einzuordnen. Möglicherweise finden diese Parallelen zum „Regenroman“, der gleichen Autorin. Auch da spielt ja die Körperlichkeit der Protagonisten eine wesentliche Rolle.
Dem mickrigen, bebrillten mittellosen, sexistischen Schriftsteller Leon Ulbricht gilt nichts so sehr wie Prestige, Geld und Macht. Seinem einzigen ´Freund`, dem kriminellen widerwärtigen Kraftprotz Harry mit Kampfhund, den er nicht beherrschen kann und daher ertränkt, fühlt er sich männlich unterlegen. An seiner attraktiven und ehemals erfolgreichen Frau lässt er seine Minderwertigkeitsgefühle aus, indem er an ihrer lädierten Identität weiterhin kratzt. Martina ist sexualfeindlich aufgewachsen, fühlt sich von der Familie und Leon missverstanden, kompensiert Gefühle im Schönheitswahn und Bulimie.
Wieder ist es „kein Liebslied“, das da gesungen wird, in dem das Böse an „feuchten Stellen“ gedeiht (und von denen wimmelt es nur so im moorigen, schleimigen, Schnecken besetzten Feuchtgebiet, in dem der Regenroman spielt). Leon gibt sich den Reizen des „samtgewandeten, reichgeschmückten und ´schneckenhaft` fetten Körpers der Nachbarin hin“, die er eigentlich sexuell demütigen wollte. Machtlos muss Leon es geschehen lassen, wie Martina von Harry brutal vergewaltigt wird – die Nachbarinnen eilen ihr zu Hilfe – woraufhin sie ihn verlässt, zu den Helferinnen vorübergehend zieht – und ihren verwahrlosten, zunehmend verfetteten Ehemann seinem Schicksal und Selbstmitleid überlässt.
Auch diese Bücher passen gut zum Kontext der Ausstellung „Apropos Sex“ im Kommunikationsmuseum Frankfurt. Schließlich ist ein Teil des Sexes auch die Frage nach der eigenen Identität und der Frage nach Umgang mit Körperlichkeit, diese stellen sich nicht nur junge Frauen wie in „Das ist kein Liebeslied“. Auch in der Oper „Sancta“ geht es um körperliche Grenzerfahrungen im Bereich der Sexualität, des Schmerzes und letztlich auch um Gemeinschaft und Selbstbestimmung, das gleicht auf der Metaebene durchaus dem „Regenroman“.