Du betrachtest gerade Victima und Sacrificium in Schillers romantischer Tragödie „Die Jungfrau von Orleans“ – ein Beitrag von Nahid Ensafpour

Im UniWehrsEL wurde die Aufführung von Arthur Honeggers Oratorium „Jeanne d’Arc au bûcher“ an der Oper Frankfurt besprochen. Die eindrucksvolle Komposition thematisiert die letzten Stunden der Jungfrau von Orleans. Nahid Ensafpour (vgl. auch ihren Beitrag zum Thema Opfer im UniWehrsEL) greift die Legende um die Jungfrau von Orleans auf, erweitert und ergänzt sie und verdeutlicht damit, warum viele Literaten und Künstler von dieser Figur so inspiriert sind. In Schillers Tragödie wird Johanna als Gesandte Gottes repräsentiert, die ihr irdisches Leben und Lieben aufgibt, sich für die Rettung des Vaterlandes einsetzt und die Franzosen in den Kampf gegen die Engländer führt. Nahid zeigt in ihrem Beitrag die Nuancen der spannungsreichen Beziehung von Liebe und Opfer auf. Herzlichen Dank, liebe Nahid für diesen spannenden Beitrag!

Die Ästhetik der Legende um die Jungfrau von Orleans fasziniert und inspiriert viele Literaten und Künstler seit etlichen Zeiten. Schillers historische Dramen sind nicht allein im Hinblick auf dramatische Inszenierungen geschichtlicher Vorgänge zu betrachten, sondern beruhen viel mehr auf frei erfundene Elemente. Dieses Axiom gilt auch für das Stück der Jeanne d’Arc. Schiller hat sich in der Tragödie Die Jungfrau von Orleans, was das Historische anbelangt, weit von den tatsächlichen Fakten entfernt.[1] Er stellt seine Protagonistin Johanna, welche im Gegensatz zur historischen Jeanne d’Arc keine Morde begangen hat, als eine brutale Kriegerin dar.[2] Er heroisiert und glorifiziert Johanna jedoch auf dem kriegerischen Feld als Heldin am Ende seines dichterischen Dramas nicht, wie die geschichtliche Figur auf dem Scheiterhaufen.

Johanna wird in Schillers Tragödie als Gesandte Gottes repräsentiert. Ihr wird durch eine göttliche Offenbarung die Aufgabe erteilt, das irdische Leben aufzugeben, um sich für die Rettung des Vaterlandes einzusetzen und die Franzosen in den Kampf gegen die Engländer zu führen.

Auf dem Kriegsfeld gerät Johanna in einen inneren Konflikt zwischen der Wirklichkeit und ihren Idealen. Ihre Vorstellung über das Erhabene, welches als Maxime zur Realisierung ihrer Ideale gilt, erscheint plötzlich brüchig. Schiller hat den inneren Konflikt und den Zwiespalt seiner Heldin in zwei Szenen hervorgehoben.

Das Zusammentreffen mit Lionel, dem englischen Feldherrn führt zu einer menschlich persönlichen Tragödie für Johanna. In dem Moment als sie von Angesicht zu Angesicht in Lionels Augen schaut, wird ihr der naive Glauben am Gottesauftrag klar, da sie erfährt, dass sie nicht frei ist und frei handeln kann. Sie verliebt sich zum ersten Mal in ihrem Leben in einen Mann und fühlt sich von ihm hingezogen. Dadurch erfährt sie erstmalig die Empfindungen der sinnlichen Liebe und der tiefen menschlichen Zueignungen. Gleichzeitig fühlt sie sich als Verräterin, da der Mensch den sie begehrt, der Feind ihres Volkes ist. Sie sollte ihn laut kriegerischen Regeln und ihrem göttlichen Auftrag töten. Doch wie wäre das möglich? Sie lässt Lionel frei und stürzt in eine tiefe Verzweiflung.

In dem Moment kommt sie zu der Erkenntnis, dass sie ihr Gelübde gegenüber Gott einseitig gebrochen hat und fragt sich:

„Was hab ich / Getan! Gebrochen hab ich mein Gelübde!“ (V. 2482) / 

Schiller konfrontiert Johanna mit sich selbst und ihrem Menschsein. Er zeigt, wie Johannas moralische Haltung durch ihre sinnliche Neigung zu Lionel ein neues Bewusstsein gegenüber sich und ihrem Dasein gewinnt. Sie weiß nicht, ob sie aus Mitleid gehandelt hat und fragt sich, warum sie kein Mitleid für Montgomery empfunden hat. Ihre innere Zerrissenheit wird wie folgt ausgedrückt:

„Sollt ich ihn töten? Konnt ichs, da ich ihm/Ins Auge sah? Ihn töten! Eher hätt ich/ Den Mordstahl auf die eigne Brust gezückt! / Und bin ich strafbar, weil ich menschlich war? /Ist Mitleid Sünde? – Mitleid! Hörtest du/Des Mitleids Stimme und der Menschlichkeit/Auch bei den andern, die dein Schwert geopfert? /Warum verstummte sie, als der Walliser dich, / Der zarte Jüngling, um sein Leben flehte? Arglistig Herz! Du lügst dem ewgen Licht, /Dich trieb des Mitleids fromme Stimme nicht!“ (V. 2564ff)

Das Zerwürfnis zwischen ihrer jetzigen Erkenntnis und dem göttlichen Auftrag verdeutlicht ihren inneren Bruch: „Gebrochen hab ich meinen Bund, entweiht/ Gelästert hab ich deinen heilgen Namen!“ (V. 2745 ff).

Die Begegnung mit Lionel zeigt eindeutig, dass Johanna im Drama nicht nur als Kämpferin und Heldin handelt, sondern auch als eine Frau wie alle anderen. Sie ist verliebt und fühlt sich deswegen schuldig und unrein. In ihrem Monolog enthüllt Johanna ihre zerrissene innere Haltung. Sie ist verliebt und fühlt sich deswegen schuldig und unrein:

„Mir ist das Herz verwandelt und gewendet, /Es flieht von dieser Festlichkeit zurück, /Ins britsche Lager ist es hingewendet, /Hinüber zu dem Feinde schweift der Blick, /Und aus der Freunde Kreis muß ich mich stehlen, /Die schwere Schuld des Busens zu verhehlen. / […] /Für meines Landes Feind entbrennen! /“. (V.2337 ff)

Auf die Frage ihres Vaters Thilbaut: „Gehörst du zu den Heiligen und Reinen“ (V. 2985) kann sie keine Antwort geben. Johannas Schweigen zeigt ihren Zwiespalt, weil sie selbst ihre Beweggründe zur Führung des Gottesauftrags bezweifelt.

Sowohl das Schweigen Johannas gegenüber ihrem Vater, der sie der Hexerei beschuldigt als auch ihre Niederlagen nach der Zurückeroberung Orleans wurden als Staatsverrat und gegen den König Karl VII. interpretiert. Daher wird sie vom König und das französische Volk denunziert und muss das Land unter dem Schutze des Königs verlassen.

Sie wird durch ihre dramatische Entgleisung (Hamartia)[3] von einer Heldin zu einer Verräterin degradiert. Mit ihrer Verbannung wird Johanna „von der unter Gottes Schild stehenden Jungfrau zu der von Gottes Schild Verlassenen“.[4] Johanna fühlt sich daraufhin in einem „‚Selbstfindungsprozess‘. Sie verliert ihr Schuldgefühl und hält erneut aufgrund eigener Überlegung an ihrer göttlichen Bestimmung fest. Durch ihre augenblickliche Gelegenheit gewinnt sie die persönliche Größe. Daher fühlt sie sich „geheilt“ und „gereinigt“ (Katharsis)[5].

Mit der Verbannung von Schillers Heldin Johanna aus der Stadt, erreicht die romantische Tragödie ihren Wendepunkt. Johanna weiß, dass sie den „Konflikt zwischen Pflicht und Neigung“[6] nur „mit ihrem Leben bezahlen muss“[7]. Als die Engländer sie internieren, bettelt sie um ihren Tod: „Nehmt eine blutge Rache! Tötet mich!“ (V.3236). Für sie gibt es keinen anderen Ausweg mehr. Sie hat am Anfang der Tragödie als Gottesgesandte gehandelt und fühlt sich durch ihre verbotene Liebe zu dem Feind ihres Volkes als Verräterin. Sie bleibt doch bis zu diesem Extremum eine wahre Patriotin und möchte ihrem Volk zum Sieg verhelfen. Ihre erneute Begegnung mit Lionel und sein Angebot, seine Liebe zu erwidern und ihm zu folgen, antwortet sie:

Du bist Der Feind mir, der verhaßte, meines Volks. / Nichts kann gemein sein zwischen dir und mir. / Nicht lieben kann ich dich“ (V. 3350 ff).

Sie fordert Lionel auf, als Liebesbeweis, sich für den Frieden zwischen den beiden Ländern einzusetzen und ihres Vaterlandes Boden an Frankreich zurückzugeben:

„doch wenn dein Herz/ Sich zu mir neigt, so laß es Segen bringen/ Für unsre Völker. – Führe deine Heere/ Hinweg von meines Vaterlandes Boden, / Die Schlüssel aller Städte gib heraus, / Die ihr bezwungen, allen Raub vergüte, / Gib die Gefangnen ledig, sende Geiseln/ Des heiligen Vertrags, so biet ich dir/ Den Frieden an in meines Königs Namen“. (V. 3350 ff)

Doch nach ihrer Einkerkerung erfährt sie, dass die Franzosen im Kampf gegen die Engländer in einer schwierigen, schicksalhaften Lage verwickelt worden sind. Nach einem Wunder gelingt ihr die Flucht. Sie führt die Franzosen zum entscheidenden Sieg, wobei sie selbst schwer verletzt wird. Noch vor ihrem Tod kommt es zur Versöhnung mit dem König und seinen Getreuen.

Diesmal handelt Johanna nicht mehr als „blindes Werkzeug“[8], sondern „als ein in moralischer Freiheit handelnder Mensch“[9] Johanna entscheidet in dieser Szene bewusst. Sie ist laut Pott „kein reines Opfer“[10] mehr, sondern ein selbstbestimmtes Opfer.

Der patriotische Heldentod von Johana und ihre Auferstehung in der letzten Szene sowie ihre Heiligsprechung durch den König stellen die Einheit des Heroischen und des Göttlichen bei Johanna dar. Ihre Auferstehung wurde von Schiller analog zu dem Mysterium von Jesus Kreuzestod dargestellt. Johanna wird wegen ihres Beitrags für die Befreiung von Orlean zum Idealbild der christlichen Märtyrerin. Sie spiegelt das „Idealbild von Schiller“ als eine Visionärin wider. Sie wird in der Tragödie Die Jungfrau von Orleans zum Sündenbock und somit das stellvertretende Opfer im Sinne von ‚victima‘dargestellt. Demzufolge wird sie als Hexe aus der Stadt vertrieben. Durch ihren patriotischen Heldentod transformiert sie sich schließlich in die Gestalt des ‚sacrificium‘.



[1] Mudark, Andreas: Lektüreschlüssel, Friedrich Schiller, Stuttgart 2006, S.6

[2] Ebd.

[3] http://www.li-go.de/prosa/drama/hamartia.html/ / Letzter Abruf: 20.09.2020

[4] Ide: Zur Problematik der Schiller-Interpretation. Überlegungen zur „Jungfrau von Orleans“.S. 84. (zitiert von Kyeonghn Lee, Daejin; Dissertation Weiblichkeitskonzeption und Frauengestalten im theoretischen und literarischen Werk Friedrich Schillers, Marburg 2003

[5] Übers. u. Hrsg.: Fuhrmann, Manfred, Griechisch/Deutsch Aristoteles Poetik, Reclam, 2008

[6] Vgl. Kyeonghn Lee

[7] Inge Stephan; Da werden Weiber zu Hyänen, Amazonen und Amazonenmythen bei Schiller und Kleist, in: Stephan, Inge; Weigel, Sigrid (Hrsg.): Feministische Literaturwissenschaft. Dokumentation der Tagung in Hamburg vom Mai 1983 (Berlin: Argument, 1984), 23-42. DOI: https://doi.org/10.25595/140/ Letzter Abruf: 05.10.2020

[8] Mansouri: Die Darstellung der Frau in Schillers Dramen. S. 369

[9] Ebd.

[10] Vgl. Pott Hans Georg, Heiliger Krieg, Charisma und Märtyrertum in Schillers romantischer Tragödie Jungfrau von Orlean

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