Die neue Produktion Mitridate, re di Ponto an der Oper Frankfurt von Claus Guth verlegt Mozarts Oper, die auf Jean Racines Drama Mithridate basiert, aus ihrem historischen Kontext von Römern, Griechen und Persern in die Welt eines modernen Familienunternehmens. Der König Mitridate von Portus, lässt, nach einer Schlacht gegen die Römer, seine Verlobte Aspasia und seine beiden Söhne Sifare und Farnace zurück, um deren Loyalität zu prüfen. Mit psychologischen Feingefühl hatte der erst 14-jährige Mozart die extremen Seelenzustände der handelnden Charaktere in Musik übersetzt. Unser Opernkenner I. Burn hat die Neuinszenierung für uns besucht und kommentiert.
Liebe Leser des UniWehrsEl,
In der Originalgeschichte Mithridate kämpfen die Söhne um die Gunst Aspasias, während sie unterschiedliche politische Beziehungen zu Griechen und Römern pflegen. Bei der Loyalitätsprüfung durch den Vater denkt der Zuschauer sofort an König Lear, der seine Familienmitglieder auch auf ihre Treue testet und so ein Familiendrama auslöst. Diese Gedanken sollte der Zuschauer bei Mitridate im Hinterkopf behalten.
Guth löst diesen historischen Rahmen auf und stellt stattdessen einen Unternehmer dar, der – wie der von Römern umzingelte Feldherr – seine Geschicke nicht aufgeben will. Die Söhne sehen die Abwesenheit bzw. das Gerücht vom Tod ihres Vaters als Chance, das Familienoberhaupt zu werden und das Unternehmen zu führen.

Klassische Stücke neuzeitlich zu interpretieren gelingt auch Tom Lanoye mit seiner „Königin Lear,“ einem Bühnenexperiment das wagt. Shakespeares „King Lear“ in die Neuzeit zu versetzen. Statt drei Töchtern, die das Vertrauen des Vaters erwerben sollen, gibt es nun drei Bürgersöhne, die sich den Mutterkonzern aufteilen (unser Beitrag „Wenn die alte Königin geht ...“)
Zunächst kurz die Einführung zu Mitridate, re di Ponto (vgl .Mitridate Spielplan Oper Frankfurt):
„Der alternde König Mitridate will noch einmal heiraten. Doch er spürt, dass seine beiden Söhne ihm die Liebe seiner Verlobten Aspasia wie auch den Thron streitig machen könnten. Deshalb streut Mitridate nach einer Niederlage gegen die Römer das Gerücht, er habe in der Schlacht den Tod gefunden. Prompt bedrängt sein Ältester Farnace die junge Braut des Vaters, stattdessen ihn zu heiraten. Doch Aspasia liebt insgeheim dessen jüngeren Bruder Sifare und bittet ihn um Schutz gegen Farnaces Annäherungsversuche“.
Claus Guth verlagert auf der Bühne den Konflikt auf die private Ebene: ein vornehmes Anwesen mit einem zentralen Sofa wird zum Schauplatz, in dem die Familienmitglieder – wie in einer

Therapiesitzung bei Doktor Freud – ihre inneren Konflikte ausleben. (Wer beim Stichwort „Freud“ näheres zu dessen Person erfahren möchte, dem sei unser Beitrag zu dem Kinofilm „Freud – Jenseits des Glaubens“ empfohlen.)
Die Struktur von Mozarts Oper Mitridate, re di Ponto, bestehend aus Rezitativ und Arie, dient dabei als musikalischer Rahmen, der die langen „Therapiesitzungen“ der Figuren widerspiegelt.
In den Arien bringen Sifare, Farnace, Mitridate und Aspasia ihre Gefühle zum Ausdruck. Überschießen diese Emotionen, eröffnet die Regie einen eigenen therapeutischen Raum – in der Sprache der Therapeuten ein Safespace, im Star‑Trek‑Universum ein „Holodeck“ – ein Raum in der die Sehnsüchte der Figuren abgebildet werden. Dieser Raum ist in sich geschlossen, ein inneres Gefängnis, aus dem die Familienmitglieder nicht entkommen können.
Die spannende Frage ist nun für mich, wie wird die Figur des Farnace, als Symbol für die zerstörerischen Mechanismen des Kapitalismus, dargestellt? Dazu kurz die Einführung der handelnden Personen (vgl .Mitridate Spielplan Oper Frankfurt):
Farnace verkörpert besonders die zerstörerischen Mechanismen des Kapitalismus, indem er das Familienunternehmen nicht als gemeinschaftliches Erbe, sondern als persönliches Spielfeld für Macht und Profit betrachtet. Farnace versucht, durch charmante Rhetorik die Gunst Aspasias zu gewinnen, doch hinter seiner Fassade verbirgt sich möglicherweise ein kalkulierter Ansatz, der jede emotionale Bindung als Mittel zum Zweck nutzt. Sein Verhalten illustriert, wie der Kapitalismus menschliche Beziehungen instrumentalisieren lässt, um wirtschaftliche Vorteile zu sichern.
Farnace nutzt Networking (dies meint, sich beruflich zu vernetzen, ständig mit Leuten in Kontakt zu treten, um dies für die eigne Karriere zu nutzen. Dies richtet sich gegen seinen Vater, indem er bereit ist, mit den Römern – den historischen Feinden seines Vaters – zusammenzuarbeiten, um seine Position zu festigen. Dieser Verrat an den eigenen Prinzipien zeigt, dass im kapitalistischen Denken Loyalität und ethische Überlegungen leicht dem Streben nach Macht weichen.
Meine weitere Fragestellung lautet: Warum wird Aspasia zur reinen Trophäe reduziert und was sagt das über die Behandlung von Frauen im Familienunternehmen aus?
Aspasia wird zur Trophäe reduziert, einem Symbol für den Status, den Farnace und sein Vater durch ihre Dominanz erlangen wollen. Ihre eigene Identität und ihr Wille werden dabei ignoriert, was die kapitalistische Tendenz verdeutlicht, Frauen und Mitarbeiter als Verhandlungsmasse zu behandeln, anstatt sie als eigenständige Akteurinnen anzuerkennen.
Dies zeigt Claus Guth auch an der Figur des servierenden Butlers auf. Diese Figur hat eine eigene Meinung, wird aber von den Familienmitgliedern als Person ignoriert und wie ein Gegenstand behandelt.
Auch die Frage: Wie visualisiert die Regie Aspasias fehlende Selbstbestimmung? interessiert mich sehr.
Die Darstellung der überschießenden Gefühle erfolgt durch Tänzer, die die inneren Zustände der Figuren spiegeln. Besonders deutlich wird das bei Aspasia, die sich wie eine fremdgesteuerte Puppe fühlt, ohne eigenen Willen, und sich den Machtspielen von Mitridate, Farnace und Sifare beugen muss. Aspasias Verhalten erinnert mich an das Seminar Puppen als anthropomorphe Wesen. Denn ihr Verhalten erscheint in der Inszenierung wie das Puppe, deren fehlende Selbstbestimmung sie völlig dem Willen der umgebenden Mächte ausliefert. Durch die Abhängigkeit von Mitridate, Farnace und Sifare wird ihr Handeln zu einem anerzogenen Verhalten von Frauen, das ihr keine Möglichkeit lässt, eigene Entscheidungen zu treffen. Aspasia und Ismene besitzen in dieser Oper keine eigene Identität; ihre Charaktere werden ausschließlich durch den Blick der Männer und deren Erwartungen und Manipulationen definiert.

Puppen und Puppenhäuser spielen in vielen Inszenierungen eine Rolle, so etwa bei Ibsens „Nora“ (unser Beitrag „Nora – „Ein Puppenheim„). Sie sind Seelenverwandte, anthropomorphe Wesen oder man kann sie auch wunderbar unter einen Glassturz setzen. In der Welt von „Nora oder Ein Puppenheim“, dem Theaterstück von Henrik Ibsen, ist die Lüge nicht nur ein Werkzeug, sondern eine Lebensstrategie. Gefangen im Puppenheim, in dem sie von Torvald wie eine Puppe behandelt wird – hübsch anzusehen, aber ohne eigene Stimme, – bleibt ihr kaum eine andere Wahl. Wie schon ihr Vater sieht auch Torvald sie nicht als eigenständige Person, sondern als schmückendes Beiwerk seines Lebens.
Aspasias Herz gehört dem vermeintlich empathischsten und jüngsten Mann Sifare. Die Regie visualisiert ihr ausgeliefertes Sein durch Tänzer, die ihre Gefühle widerspiegeln; Farnace erscheint als schwarze, gesichtslose Männerhorde, die sie in die Rolle der Puppe und Zuschauerin ihres eigenen Schicksals drängt. Diese Ohnmacht teilt Aspasia mit Farnaces Geliebter Ismene, die ebenfalls von Farnace zurückgewiesen wird. Farnace begehrt nicht nur das Familienimperium, sondern auch Aspasia als Statussymbol für seine neue Macht und ist bereit, dafür einen Pakt mit den Feinden seines Vaters – den Römern – einzugehen.
Auch Mitridate erkennt die Bedrohung: in seinem Safespace sieht er sich von seinem Sohn als erbarmungslosen, gesichtslosen Gruppenführer umzingelt. Er will die Macht nicht aufgeben. Aspasia sucht einen Ausweg aus ihrem Puppensein, indem sie sich selbst vergiften will. Mitridate wählt keinen Kampf gegen die römische Bedrohung, sondern den Selbstmord, indem er sich in sein eigenes Schwert stürzt. Damit befreit er Aspasia für Sifare und gibt seinen Segen für deren Beziehung. Farnace vollzieht die größte Verwandlung: vom Landesverräter, der sein Volk an die Römer verrät, wird er nach einer Selbstanalyse zum Retter seiner Leute. Am Ende vereint Mitridate seine Söhne im Kampf gegen Rom und verleiht seinem Tod damit Bedeutung.
Fazit

Claus Guth gelingt es, Mozarts Oper in einen zeitgenössischen Kontext zu übertragen, in dem der Generationenkonflikt zwischen Vater Mitridate und seinen Söhnen als familiärer Machtkampf um ein Unternehmen dargestellt wird. Die Kombination aus klassischer Opernstruktur, tänzerischer Spiegelung innerer Zustände und dem Bühnenraum als Safespace schafft eine eindringliche, fast therapeutische Atmosphäre, die die alten Themen von Loyalität, Macht und Selbstopfer in ein modernes, nachvollziehbares Bild überträgt. Die Inszenierung regt zum Nachdenken über die Parallelen zwischen historischen Schlachten und den Fehden innerhalb von Familienunternehmen an.
Herzlichen Dank für den interessanten Beitrag, die begleitenden Images von Pixabay und den Mozart als Titelbild Image by OpenClipart-Vectors from Pixabay
Liebe UniWehrsEL Leser,
Spontan fällt mir dabei eine Forschung aus dem Jahre 2006 ein: Warum sollten Frauen nicht erste Wahl sein? Familiendynamik im Familienunternehmen. Es ging um „Unternehmertöchter“ und die Frage, ob und wann die Väter bereit sind, die Firmenverantwortung an sie abzugeben. Autor war der von mir hoch geschätzte Prof.Rolf Haubl, der leider in diesem Jahr im Mai 2025 verstorben ist. Ich nutze die Gelegenheit, um mich bei ihm zu bedanken. Ich zolle ihm als als meinem wissenschaftlichen Berater und Zweitgutachter meiner Dissertation „Verstehen an der Grenze“ großen Respekt!
„Prof. Dr. Dr. Rolf Haubl, 55, studierte Psychologie und Germanistik an der Universität Gießen. Seit 2002 ist Haubl Professor für Soziologie und psychoanalytische Sozialpsychologie der Universität Frankfurt und Direktor des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt. Er ist Gruppenlehranalytiker, Gruppenanalytischer Supervisor und Organisationsberater (Deutscher Arbeitskreis für Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik, Deutsche Gesellschaft für Supervision e.V.). Seine Forschungsschwerpunkte sind ökonomisches Alltagshandeln und seine Psychopathologien, zum Beispiel Kaufsucht und Überschuldung; Beratungsforschung, insbesondere Supervison und Coaching in Profit- und Non-Pro-fit-Organisationen und Emotionsforschung“ (vgl. Forschung Frankfurt, 2006).
Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie zu der oben von I. Burn angesprochenen Thematik oder Prof. Haubls Essay einen Kommentar hinterließen!
Mit besten Grüßen
Ihr UniWehrsEL (Elke Wehrs)
