„Gestatten Sie, dass ich liegen bleibe …“ hieß der humorvolle Titel zu einem ernsten Thema. Thorsten Benkel und Matthias Meitzler haben über 500 Friedhöfe im deutschsprachigen Raum besucht – und über ungewöhnliche Grabsteine bei ihrer Reise über die Friedhöfe von heute berichtet.
Grund genug und Anlass zu unserem gleichnamigen Seminar im Sommersemester 2023 an der U3L. Im Nachgang überreichte mir Herr Brinkmeyer ein Buch, das die Thematik des „modernen Todes“ weniger satirisch, als beklemmend aufgreift.
Danke für die Anregung, die uns alle sehr nachdenklich werden lassen sollte.
Der schwedische Literaturwissenschaftler, Schriftsteller, Opern-, Fernsehspiel- und Hörspielautor Carl-Henning Wijkmark (1934 bis 2020 in Stockholm), beeindruckte nicht nur als Kulturjournalist, sondern auch als Übersetzer von Benjamin, Nietzsche und Lautreamont. Auch als Schriftsteller vermag er bis heute zu überzeugen. Seine Satire Der moderne Tod erregte wegen seines prophetischen Zynismus großes Aufsehen in Deutschland.
In seiner Negativ-Utopie geht es, vereinfacht gesagt, um das heldenhafte Sterben fürs ökonomische Gemeinwohl. Der Klappentext verrät die außerordentliche Bedeutung und gedankliche Anregung dieser ernsten Satire.
„Zu einem skurrilen Symposium in Südschweden versammeln sich mehrere Experten. Diskutiert werden die letzten Fragen: Eine möglichst ökonomische Beseitigung alter Menschen. “Der moderneTod” ist eine ernste Satire, welche die Linien weiterzuziehen versucht, die in den Altenpflege- und Todeshilfedebatten der letzten Jahre vorkamen, um dem Zukunftsschock vorzugreifen, der uns vielleicht bald erwartet. Zugleich wird hier ein Bild unserer Gesellschaft gegeben: die Vorstellungen über den Tod und die Menschenwürde sind ein sicherer Indikator der Wegrichtung einer Gesellschaft.“
Mehr als zwanzig Jahre nach Erscheinen ist “Der moderne Tod” von beklemmender Aktualität. Caspar Storm ist Mitglied eines nicht näher spezifizierten, streng geheimen und undatierten Tagungstreffen des “Instituts für medizinische Ethik” im schwedischen Öresund. Diskutiert wird nicht nur die Thematik des letzten Lebensabschnittes des Menschen, sondern auch die Problematik der “Triage“ (aus dem Französischen “Auswahl“ oder “Sichtung“). Im medizinischen Kontext beschreibt es die Einteilung von Patienten nach der Schwere ihrer Verletzungen. Dadurch können Ärzte und Pfleger leichter entscheiden, wer zuerst behandelt wird. Storm beschreibt als Beispiel die Situation dreier Notfälle, die gleichzeitig auf dem OP-Tisch landen. Und seiner Meinung nach muss der Regiungspolitiker einem jungen ledigen Mädchen und einem Waldarbeiter mit vier Kindern vorgezogen werden. Und warum?
“Auf den Menschenwert brauchen wir nicht einzugehen und rein gemeinschaftlich liegt der alleinstehende Staatsrat klar schlechter als sein Rivale um das Leben. Aber der Gesellschaftswert eines leitenden Politikers kann als so groß angesehen werden, daß ihm höchste Priorität zukommt. Er muß gerettet werden um des Staates willen, der nach modernen Gesichtspunkten der höchste aller Werte ist, auch wenn wir ihn lieber ‘Gesellschaft’ nennen.”
Erörtert wird im Symposium zudem, wie der maroden wirtschaftlichen Situation Schwedens zu begegnen sei, deren Gesellschaft durch eine “Altenexplosion” bei gleichzeitig geringer Geburtenzahl geprägt ist und in der man darum „schnell Tote braucht“; um es gemeinsam und einhellig auf den Punkt zu bringen.
Die Lösung liege darin, den Alten beizubringen, möglichst bald in ihren Tod einzuwilligen, sei es indem man an die Einsicht der Betroffenen in die gesellschaftliche Notwendigkeit ihres Ablebens appelliere oder sie durch Suggestion und Manipulation zum gleichen Ergebnis bringe.
Verkürzung des Lebens alter Menschen führe so zur Entlastung der Volkswirtschaft. Ein Übriges könnte durch die Tötung von Neugeborenen mit Down-Syndrom oder offenem Rückenmark erreicht werden.
Das klingt grausam und es macht froh, dass die Tötung Behinderter unmittelbar nach der Geburt obsolet ist. Die Pränataldiagnostik leistet hier einen entscheidenden Beitrag zur Früherkennung, ohne aber die etwaigen Gewissensqualen der Eltern damit zu verleugnen. Ob es immer noch aktuell skrupellose Politiker, Wissenschaftler oder Theologen gibt, die dem Gedankengut der Euthanasie anhängen, vermag man sich nicht einmal vorzustellen.
Im fiktiven Symposium ist man sich schließlich einig. Nur ein gewisser Herr Rönning, offensichtlich das Alter-Ego des Autors, als “dänischer Geisteshistoriker und Schriftsteller” deklariert, übernimmt als Einziger die Stimme des Opponenten.
Das Buch befeuert immer wieder die Diskussionen um das Thema Selbstmord, im Fall der Pflegesituation, und die Debatte zur Sterbehilfe. Birgt der selbstbestimmte Tod die Gefahr, dass sich alte Menschen aus dem Leben gedrängt fühlen?
Anfang dieses Jahrtausends brachte Hans Magnus Enzensberger Wijkmarks Buch in den Fokus einer breiten Öffentlichkeit. „Wijkmark war der Zeit um ein paar Jahrzehnte voraus … Inzwischen hat die Realität, wie das Beispiel der Niederlande zeigt, Wijkmarks Überlegungen weitgehend eingeholt. Es ist daher höchste Zeit, sie zur Kenntnis zu nehmen. Sie lassen an Hellsichtigkeit und Kaltblütigkeit nichts zu wünschen übrig.“ (Hans Magnus Enzensberger)
Das Volkstheater Rostock erinnerte 2015 angesichts der neuerlichen Debatten um Sterbehilfe und „Überalterung“ der Gesellschaft an das heute, aktueller denn je, erscheinende Werk.
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