»Ähnlichkeiten mit den Praktiken der ›Bild‹-Zeitung […] sind weder beabsichtigt noch zufällig, sondern unvermeidlich.« Aus dem Vorwort Bölls
Heinrich Böll schrieb „Die verlorene Ehre der Katharina Blum oder: Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann“ 1974. Hintergrund waren die RAF-Anschläge, Diskussionen um Haftbedingungen und Beschuldigungen von sogenannten Sympathisanten des RAF-Terrors. Böll war selbst betroffen. Auch Katharina Blum, die Protagonistin seiner Erzählung, gerät in den Mittelpunkt der Sensationsmache einer großen Boulevardzeitung. Die israelische Regisseurin Sapir Heller inszeniert den 50 Jahre alten Text mit Zeitbezügen am Schauspiel Frankfurt. Dazu ein Leserbrief mit herzlichem Dank!
Liebes UniWehrsEL,
gestern war ich in „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ im Schauspiel Frankfurt. Das Stück trägt den Untertitel „oder wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann“. Geschrieben wurde das Buch von Heinrich Böll. Eine Bühnenfassung erarbeitet der Dramatiker John von Düffel für das Schauspiel. Der Untertitel deutet schon an, wohin die Reise der Katharina Blum gehen wird. Das Stück passt zu dem bereits besprochenen Stück „Furor“ von Lütz Hübner. Auch Katharina Blum treiben am Ende Rachegedanken, darum passt es ebenfalls gut in das Seminar „Die Psychologie der Rache„. Blum erschießt den Journalist Tötges, weil dieser aus ihrer Sicht ihr Leben dauerhaft zerstört hat. Der Zuschauer ist bei dieser Mordtat seltsamerweise auf der Seite von Blum.
Denn der Journalist begrüßt Blum beim angesetzten „Exklusiv-Interview“ mit den Worten „Na, wollen wir bumsen“? Das wirkt schon frech, dreist. Einen Bumms bekommt Totges dann auch von Katharina und zwar in Form eines Lochs in den Kopf. Es ist diese leichte Ironie der israelischen Regisseurin Sapir Heller, die den Mord auf der Bühne fast zu einem Witz werden lässt.
Heller stellt sich die Frage in der Inszenierung: wie kann der Einzelne Gewalterfahrungen begegnen? Ihre persönliche Antwort im Interview: mit Humor. Denn nur Humor lässt uns als Einzelnen Widerstandskräfte gegen die Ohnmacht der Gewalterfahrung entwickeln. An einer Stelle heißt es über Rachegedanken: die haben wir alle manchmal. Aber setzten sie nicht in die Tat um! Es ist also ein innerlicher Prozess in Katharina in Gang gekommen, als sie zur Tat schreitet.
Um die Erzählung besser zu verstehen, ist eine geschichtliche Einordnung unumgänglich. Die Erzählung entstand 1974. Heinrich Böll beschäftigte sich seit den Studentenprotesten ab 1968 mit der Kritik an der Springer-Presse. Er konstruierte daraus eine Erzählung über Katharina Blum. Nach einer Party zum Karneval gerät Katharina unter Verdacht, Mitwisserin einer umfangreichen Betrugsaffäre zu sein. Auf der Karnevalsparty lernte sie Ludwig Götten kennen. Sie kannte ihn vorher nicht. Nachdem sie mit ihm die Party verlassen hat, steht am nächsten Tag die Polizei vor der Tür. Ludwig ist weg. Sie wird stundenlang von der Polizei befragt. Daneben startet die Zeitung eine wahrheitswidrige Kampagne gegen ihre Person. Chefankläger der Zeitung ist eben jener Journalist, den sie schließlich mit einer gestohlenen Waffe erschießt. Die junge Hauswirtschaftlerin Blum wird öffentlich als „Banditenliebchen“ diffamiert, Aussagen von ihren Arbeitgebern und ihrem Ex-Ehemann werden umformuliert und verfälscht wiedergegeben. Sie erhält Drohbriefe. Der Boulevardredakteur Tötges hetzt sie und lässt nicht mehr von ihr ab.
In dem Vorwort zum Buch steht sinngemäß: sollten sich bei der Schilderung gewisser journalistischer Praktiken Ähnlichkeiten mit Praktiken der Bild-Zeitung ergeben haben, so sind diese Ähnlichkeiten weder beabsichtigt noch zulässig, sondern „unvermeidlich“. Böll hatte sich 1972 vor der Veröffentlichung der Erzählung mit der Springer-Presse angelegt, in einem Essay im Spiegel. Dort zeigte er die journalistische Praxis der Bild-Zeitung am Beispiel der öffentlich geführten Debatte über die Baader-Meinhof-Bande. In der öffentlichen Debatte über Böll, nach dem Essay, wurde er als „RAF-Sympathisant“ bezeichnet, und sein Privathaus wurde im Juni 1972 durchsucht, weil die Polizei vermutete, er würde Terroristen ein Versteck bieten. Diese Erfahrungen verarbeitete Böll literarisch in seiner Erzählung.
Nun befinden sich die Zuschauer des Stücks nicht mehr in den 1970er Jahren, sondern in 2024. Medien haben heute ganz andere Möglichkeiten der Verbreitung. Ging es damals um eine „böse“ Zeitung würde der heutigen Katharina ein ganz anderer Sturm der Entrüstung als nur durch das Medium Zeitung entgegenschlagen. Aus dem Programmheft, Aufsatz „Die Zudringlichkeit unserer Zeit“ von Lena Wontorra, S.10, kann man entnehmen: “Durch den Einfluss von sozialen Medien, Online-Nachrichtenportalen und Echtzeitberichterstattung hat sich die Art und Weise, wie sich Informationen verbreiten bzw. konsumiert werden grundlegend verändert. Durch die Funktionsweise der sozialen Medien ist es heute nicht nur jeder Person möglich, seine eigene Meinung in jedem Moment der breiten Öffentlichkeit mitzuteilen, wird die Meinung anderer rund um die Uhr konsumierbar.“
Dieses Phänomen muss also eine aktuelle Inszenierung aufgreifen. Sie tut dies mit Videos. Selbstverständlich lösen die Schlagzeilen über Katharina Blum heute einen ‚Shitstorm‘ in diesen Medien aus. Unter einem Shitstorm versteht man im deutschen Sprachgebrauch die massenhafte Negativkritik gegen Unternehmen, Personen, Gruppen, Prominente und Influencer im Internet. Mit dem zunehmenden Erfolg von ‚Social Media‘ stieg auch die Verwendung des Begriffs „Shitstorm“ deutlich an. Im Jahr 2011 wurde der „Shitstorm“ zum Anglizismus des Jahres gewählt.
In dem Buch wird der Begriff Zudringlichkeit verwendet. Hierunter versteht Katharina zum einen die Zudringlichkeit von Männern gegenüber ihrer Person. Das würden heute wahrscheinlich unter dem Begriff „sexuelle Übergriffe gegen Frauen“ laufen. Zum anderen meint Katharina mit Zudringlichkeit den Verlust über die Kontrolle des eigenen Lebens. Durch ihre unfreiwillige Prominenz durch die Presseberichterstattung ist sie zu einer Person der Zeitgeschichte geworden, weil sie im Zusammenhang mit dem Mörder Ludwig Götten auftaucht. Sie muss sich also eine Berichterstattung seitens der Presse aus juristischer Sicht gefallen lassen, weil ein öffentliches Interesse an ihrer Person besteht.
Jedoch kann sie sich gegen falsche Berichterstattung ebenfalls juristisch zur Wehr setzen. Dies ist bei Katharina zwar in der Theorie möglich, aber als Haushälterin hat sie wohl kam die finanziellen Mittel, um mit einem Medienanwalt bzw. einem Medienteam gegen die diffamierende Berichterstattung der Zeitung vorzugehen. Die Waffenungleichheit ist hier offensichtlich. Im Gegensatz zu Prominenten wie beispielsweise Stephanie von Monaco hat sie nicht die Ressourcen, sich gegen die Berichterstattung in mehreren Prozessen über Jahre zu wehren.
Diese Gewalt gegenüber Katharina Blum wird von der Regie in Form einer Showbühne in Szene gesetzt. So wird der Polizist des Verhörs zu einem Showmaster mit verrücken Fingernägeln, der Belästiger Alois Straubleder zu einem seltsamen Typen, der bildlich seine eigene Hand aufisst. Das nimmt die Schärfe aus dem Text und macht daraus ein Bühnenspiel. Die anderen Figuren sehen am Anfang aus wie Katzen aus dem Musical „Cats“. Sie umschwirren die Katharina. Sie ist vielleicht der einzige „echte“ Mensch, der seine Gefühle zeigt und sich bei dem Medienspektakel wirklich hinterfragt.
Alle anderen sind „Füchse“ mit Masken. Sie reagieren auf Blum, aber sie sind nur indirekt betroffen. Manche sind Täter wie der Hauptkommissar Beizmenne, der Blum bei der Befragung hart rannimmt, um an Infos über Ludwig zu kommen. Ludwig, der Auslöser für Blums Pein, wird von ihr im Lauf der Zeit verklärt. War er doch anscheinend der einzige nette Mensch gegenüber Katharina.
Als Fazit lässt sich festhalten, dass die Ehre der Katharina Blum heute noch aktuell ist und sich die Gefahren für den Einzelnen, Opfer der Medienlandschaft zu werden, im digitalen Zeitalter noch verstärkt haben.
Liebe Grüße
Ein begeisteter Seminarteilnehmer und UniWehrsEL-Leser