Mutterliebe kann in verschiedenen Formen auftauchen. Sei es als Abhängigkeitsverhältnis wie in Strindbergs Stück Mutterliebe oder als Überforderung einer Frau in Mutter.Liebe von Susanne Heinrich, einem Gemälde in Gestalt einer Madonna mit Kind wie es im Frankfurter Städel zu bewundern ist oder als Tanzperformance einer litauischen Tänzerin in M(other) auf der Tanzplattform Rhein-Main. Gedanken zum Thema der „Mutterliebe“ hat sich der Kulturbotschafter des UniWehrsEL gemacht. Herzlichen Dank dafür!
Liebes UniWehrsEL
Am 20.11.24 war ich als Gast bei den Freunden des hessischen Staatsballetts zu einer außergewöhnlichen Performance ins Staatstheater Darmstadt eingeladen worden. Gezeigt wurde ein Ausschnitt aus der einstündigen Tanzperformance „M(other)“, welches die Tänzerin Raimonda Gudavičiūtė gemeinsam mit ihrem Sohn Elias entwickelte. Diese anrührende Tanzdarbietung wurde im Rahmen der Tanzplattform Rhein-Main in 2021 gezeigt.
Im Publikum war damals auch der Darmstädter Schriftsteller Rainer Wieczorek. Er war von diesem Mutter-Sohn Gespann so berührt, dass er die Tänzerin ansprach und mit ihr und dem Sohn zusammen ein neues Werk, ein Buch mit dem Titel „Blick auf die Tanzenden“ schuf. So werden der Sohn und die Tänzerin zu literarischen Figuren in einem poetischen Buch.
Der Lebensweg des Autors Rainer Wieczorek war nicht gerade. Er brach die Schule ab, schloss eine Lehre ab und holte auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur nach. Danach schloss er ein Studium Germanistik und Sozialpsychologie ab. Er wurde Lehrer am Berthold-Brecht-Gymnasiums in Darmstadt. Mit dem Kulturleben von Darmstadt war Rainer Wieczorek in besonderer Weise verbunden. Er war der Leiter des „Literaturhaus Darmstadt“ von 1995 bis 2009 und gestaltete dort das Programm. Das Interesse an schwierigen Lebenswegen verbindet Rainer Wieczorek mit der Tänzerin Raimonda.
Raimonda erkämpft sich die Ausbildung als Tänzerin hart. Die Tänzerin stammt aus Litauen. Ihre Herkunft ist von Armut und Gewalt geprägt. Mit großer Disziplin gelingt es ihr, ein Studium in Helsinki abzuschließen. In der Zeit des Studiums lebt Raimonda von „Reis“; für gemeinsame Aktivitäten mit anderen Tänzern hat sie nach eigener Aussage kein Geld. So lebt sie sehr einsam von der Hoffnung, mit der Ausbildung als professionelle Tänzerin später ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Die professionelle Ausbildung ist ihr Rettungsanker um die Situation durchzustehen.
Rainer Wieczoreks literarisches Schaffen widmet sich den Künstlern am Existenzminimum. Er beschreibt das „schwierige“ Künstlerdasein in der Gesellschaft. Der Text „Blick auf die Tanzenden“ wirkt phasenweise wie eine Dokumentation, vermischt aber auch fiktive Passagen. So schildert der damals neunjährige Sohn in einer Passage seinen Traum vom professionellen Fußballspieler bei der „Eintracht Frankfurt“. Im Gespräch mit dem Sohn erfährt der Zuhörer, dass der Junge mittlerweile aufs Gymnasium geht und an einem Fußballkurs des DFB für junge Talente teilnimmt. Im Buch bleibt der Junge, wie Rainer Wieczorek betont, für immer die Figur eines hoffnungsvollen Neunjährigen mit großen Träumen von einer Karriere bei der „Eintracht Frankfurt“.
Im Gespräch mit Raimonda erfährt der Zuschauer, unter welchen schweren Vorzeichen, die Tanzdarbietung „Mother“ entwickelt worden ist. In 2020 herrschte der Corona-Lockdown und Raimondas neues Stück für die Frankfurter Bühne fiel aus. So entwickelte die optimistische Raimonda mitten im Lockdown die Tanzdarbietung „M(other)“ zusammen mit ihrem kleinen Sohn. Zunächst hatte Raimonda nur einen Kurzfilm, „Me&Mother“, in ihrem Zuhause mit dem Sohn gedreht. In der Tanzdarbietung geht es um die Beziehung zwischen einer Mutter und ihrem Sohn. Diese ist nicht immer konfliktlos. Dies in Form von einer tanzenden Geschichte darzustellen, war der Anspruch den Raimonda an sich selbst stellte. Diese gelungene Verbindung einer Mutter mit ihrem Sohn brachte die Leute in der Vorstellung auf dem Rhein-Main Tanzfestival zum Weinen. Dies lag an der intensiven Verbindung die das Publikum zwischen dem Sohn und der Mutter spürte.
Im Lockdown, als er nicht in die Schule gehen und keinen Kontakt zu Spielkamerad:innen haben durfte, lud Raimonda ihren Sohn ein, mit ihr zu tanzen. Er verstand, was sie beruflich machte. Darüber hinaus, dass sie Mutter, M(other), aber auch „other“, im Sinne des Anderen, verkörpert.
Mütterliche Gefühle in der Kunst sind keine Selbstverständlichkeit, sondern mussten sich langsam erst entwickeln. Im Mittelalter wurde die Mutter-Kind-Beziehung eher zurückhaltend, vor allem in Marienbildnissen gezeigt. Im Barock wurden die Muttergefühle dafür umso offener dargestellt, wie man bei „Städel Stories“ nachlesen kann.
Mit einer sanften Berührung, einer innigen Umarmung, einem liebevoll-zärtlichen Blick wird die Mutter-Kind-Beziehung vor allem im Barock-Gemälde festgehalten. Der Prototyp dieser bildlichen Darstellung ist Maria mit dem Jesuskind. An diesen, aus der bildenden Kunst stammenden, liebevollen Umgang knüpft die Tänzerin Raimonda mit ihren herzlichen Gesten in der Interaktion mit dem Sohn an. Es berührt den Zuschauer, weil er an die mütterlichen Gefühle denkt, die ihm Gemälde wie z.B. Guericos (Govanni Francesco Barberini) Madonna mit Kind im Frankfurter Städel denken lässt. Es sind diese subtil ausgeführten Gesten, die den Betrachter an die besondere Beziehung zwischen Mutter und Kind erinnern lässt. Dies erklärt möglicherweise die emotionale Reaktion des Publikums auf die Tanzperformance „M(other)“ mit den Tränen des Publikums.
So werden die Leute an die tiefe Bindung einer Mutter und ihr Kind erinnert. Raimondas M(other)-Tanz mit ihrem Kind ist inzwischen quer durch Europa gereist und hat viele Menschen entzückt, weil Mutterliebe einfach große Emotionen in den Leuten weckt. Deshalb ist der Zuschauer bei der Tanzperformance von Raimonda so angetan, weil diese eine gelungene Beziehung zwischen Kind und Mutter auf der Bühne darstellt. Diese Abbildung entspricht dem wünschenswerten Ideal und ist eben ganz anders, als die Darstellung in dem Stück Mutter.Liebe von Susanne Heinrich, welche einen realistischen, aber eher „toxischen“ Blick auf die Beziehung Eltern versus Kind legt.
Im Februar 2024 hatte das Schauspiel Mutter.Liebe von Susanne Heinrich am Schauspiel Freiburg Premiere. Darin geht es um eine gefühlt „schlechte“ Mutter deren Mutterschaft für sie zum Gefängnis wird. Dabei hatte sich das Paar vorgenommen, sich gleichberechtigt um die Erziehung des Kindes zu kümmern. Doch in der Praxis scheitern beide Erwachsene, weil sich der Mann als ewiger „Peter Pan“ entpuppt, der nicht erwachsen werden will und somit quasi zu ihrem zweiten Kind wird. Das Stück zeigt die Überforderung junger Eltern mit der Dreier-Konstellation.
Der Topos „Mutterliebe“ impliziert für die Gesellschaft, die Liebe einer Mutter zu ihren Kindern sei selbstverständlich. Beim Stichwort Mutterliebe denkt der Leser an eine berührende Geschichte aus der Bibel. Zwei Frauen streiten um ein Baby. König Salomon muss entscheiden, wer das Kind bekommt. Die echte Mutter verzichtet aus Liebe zum Kind auf die Mutterschaft. So erfährt der König wer die richtige Mutter ist. Die „gute“ oder „richtige“ Mutter übt sich also im Verzicht und stellt die Bedürfnisse des Kindes stets über ihre eigenen.
Ob das Kind auf Dauer aber in einer solchen „symbiotischen“ Beziehung zur Mutter glücklich wird, damit hat sich literarisch der schwedische Autor August Strindberg auseinandergesetzt. In seinem Stück „Mutterliebe“, welches selten gespielt wird, verhandelt er die pathologische Beziehung einer Mutter zu ihrer Tochter. Als der „verloren“ geglaubte Vater bei der Tochter auftaucht und eine Beziehung mit der Tochter neu aufleben lassen will, zieht die Mutter alle Register der mütterlichen Manipulationskunst, damit die Tochter bei ihr bleibt. Nach einem Kampf mit der Mutter resigniert die Tochter und entscheidet sich dafür, nicht in die Welt hinauszuziehen, sondern bei der Mutter zu bleiben. Ein Leben in Abhängigkeit von der Mutter erscheint der Tochter letztlich besser, als sich allein in die Welt zu wagen.
Mit besten Grüßen des Kulturbotschafters und der Bitte um einen Kommentar!
Lieber Kulturbotschafter des UniWehrsEL,
gerade habe ich Deinen heutigen Beitrag nochmals gründlich gelesen. Spannend finde ich, dass meine Kollegin Angelika Stieß-Westermann gerade das dazu passende Seminar „Mutter, wir danken dir“ (frei nach Loriot) hält, und ich über das Bedürfnis aus einem vorgegebenen Rahmen auszubrechen, im Kontext von „Exzessen, Ekstase, Askese“ und dem „Wahn-Sinn“ (Staunen: Wahn, Wunder, Wow-Effekt) referiere.
Als Kulturbotschafter betreibst zu eben exzessives „nosing around“; ein Begriff aus dem Reporterjargon für Herumbummeln, Herumschnüffeln. So bewegst Du Dich eben auch zwischen unseren Seminaren, quasi wie im interdisziplinären Gespräch (demnächst Stieß-Westermann / Wehrs, am 13.02.25 (!) ) zu unseren Themen Mutterliebe und deren extremen Gegenbild, den „toxischen Schatten der Liebe“.
Die deutsche Soziologin Barbara Rendtorff klärt darüber auf, „Mutterliebe“ sei ein Topos, ein spezifisches kulturelles Deutungsmuster. Dieses wäre nicht nur idealisiert und romantisiert wie etwa in der Werbung, sondern sei auch normativ aufgeladen. Das bedeutet, dahinter würden sich Wertungen und Forderungen verbergen. Auch zur Ambivalenz der „guten Mutter“ berichtet Rendtorff. Denn sie berge immer auch das Gegenbild, den „Schatten der Liebe“ in sich. Die „schlechte“ Mutter, erkennt man im Märchen als die „böse“ Hexe, die Stiefmutter, die ungerecht und lieblos ist, die ihre Kinder tötet und verschlingt oder gar kocht und dem Vater vorsetzt; wie im Märchen „Machandelboom“. In diesem Sinne sei die Beschwörung der „guten“ Mutterliebe auch Angstabwehr gegen die Gefahren, die die Abhängigkeit von anderen mit sich bringe.
Mit ganz großem Dank für Deine spannenden Beiträge Dein UniWehrsEL
Danke für die Frau im Hamsterrad Bild von Natalia Lavrinenko auf Pixabay