In unserem Beitrag zu „Stell die vor, es ist Weihnachten und keiner kommt“, waren die Metathemen Warten und Hoffen. In diesem Kontext wurde auch das alljährlich gerade an Weihnachten in verschiedenen Versionen gezeigte Märchen „Hänsel und Gretel“ der Gebrüder Grimm erwähnt. Kinder wurden aus der Not heraus von den Eltern in den Wald gebracht, nach dem Motto: „Etwas besseres als den Tod findet ihr überall“. Nun warten die Eltern (vor allem der Vater, die „böse Stiefmutter“ laut Zuschreibung eher weniger) sehnsüchtig auf ihre Rückkehr. Passend zur Weihnachtszeit bot das Staatstheater Darmstadt eine Neuproduktion von Hänsel und Gretel. Der Kulturbotschafter des UniWehrsEL hat die Vorstellung für uns besucht und sich Gedanken zu Figurationen (Norbert Elias) am Beispiel von bösen Hexen und schwarzen Elfen gemacht. Danke dafür!
Liebe UniWehrsEL Leser,

Hänsel und Gretel ist nicht nur ein Evergreen, sondern wird auch immer wieder neu interpretiert (dazu auch Beitrag „Hänsel und Gretel neu interpretiert). Es auch im Rahmen des Seminars „Von Puppen und Menschen“ zu verorten, gelingt mir hoffentlich, wenn ich es mit dem jüngsten Highlight des Staatstheaters Darmstadt verknüpfe. Denn passend zur Weihnachtszeit kommt die Neuproduktion von Hänsel und Gretel unter der Regie der neuen Operndirektorin Nicola Raab heraus. Und hier, besonders eindrucksvoll, ist die Art, wie die Regisseurin mit der Figur der Hexe umgeht – ein kindliches Vorbild, das weit über die klassische Märchenfigur hinausgeht.

Hexen werden im Volksglauben und bei Märchen oft übernatürliche Fähigkeiten zugeschrieben. Hexen sprechen Flüche aus und verwandeln Menschen in Gegenstände oder Tiere. Gewöhnlich wird die Hexe als alte Frau mit schrumpeliger Haut und einer krummen Nase dargestellt. Gerade ist im Kino die böse Hexe des Westens aus dem Musical Wicked: Teil 2 zu bewundern. Hexen sind seit vielen Jahren ein Teil der Popkultur.
Berühmt ist zum Beispiel die Verfilmung des Kinderbuchs von Roald Dahl Hexen hexen. Die Schauspielerin Angelica Huston gab eine ganz besondere Hexe ab. In dem Buch von Roland Dahl wird der Waisenjunge Luke von seiner Großmutter, die sich von einer schweren Krankheit erhol, in ein Luxushotel an der englischen Küste eingeladen. Die Großmutter spricht Luke eine Warnung aus: es gebe Hexen. Diese sehen wie normale Frauen aus und hassen Kinder. Sie wollen alle Kinder in Mäuse verwandeln. An dem Film Hexen hexen zeigt sich, dass sich das Bild der Hexe in der Popkultur bereits gewandelt hat. 2020 schlüpfte die Schauspielerin Anne Hathaway nun in die Rolle der großen Oberhexe, weil die Verfilmung aus den 1990er sehr beliebt ist.
In dem berühmten Gemälde „Die drei Lebensalter einer Frau“ von Gustav Klimt werden die drei Lebensphasen einer Frau von der Kindheit (unschuldiges Mädchen), Mutterschaft (Mutter mit Baby) und Alter (gebeugte, alte Frau) dargestellt.

Dies zeigt den Kreislauf des Lebens. (Gustav Klimt wird auch erwähnt in unserem Beitrag „Musikalische und andere Empfehlungen„).
In 2019 hat das Liebighaus vom Sammler Reiner Winkler über 200 kostbare Elfenbeinskupturen erworben. Darunter ist auch eine dreiteilige Figureneinheit, die den Lebenszyklus einer Frau, ähnlich wie Klimt, thematisiert. Es geht um “ Die drei Parzen“ von Joachim Henne: „Die drei Frauen unterschiedlichen Alters, deren Nacktheit von schmalen Stoffbahnen nur spärlich bedeckt wird, scheinen in keiner klar erkennbaren Beziehung zu stehen. Sie haben einander den Rücken zugewandt und ihre von emotionaler Regung kaum erfassten Blicke weisen voneinander fort. Doch gerade diese, bis in jede Geste hinein raffiniert inszenierte Komposition, macht die Elfenbeingruppe zu einem tatsächlich rundansichtig zu betrachtenden Meisterwerk, das zur Sammlung Reiner Winkler gehört“ (Text Liebieghaus Skulpturensammlung).
Dass der alten Frau im Mittelalter böse Hexenkräfte zugeschrieben wurden, führte gesellschaftlich zu ihrer Stigmatisierung, Verfolgung und Ausgrenzung Ein zentrales Problem der traditionellen Darstellung der Hexe ist, dass sie sexistische Stereotype verstärken kann: Das Alter und ein ungepflegtes Äußeres werden automatisch mit Bosheit und Magie verbunden, wodurch ältere Frauen marginalisiert und als „Andersartige“ wahrgenommen werden.

Dies erinnert wiederum an das Werk von Annegret Soltau (Unser Beitrag „Unzensiert„) Ein zentrales Thema in Soltaus Werk ist die Auseinandersetzung mit Zensur und gesellschaftlichen Widerständen. Ihre Arbeiten wurden mehrfach der öffentlichen Zensur ausgesetzt, insbesondere in den 1990er- bis 2010er-Jahren. Werke wie „generativ – Selbst mit Tochter, Mutter und Großmutter“ und „Tochter-Pubertät“ wurden aus Ausstellungen und Publikationen entfernt, da sie als schonungslos in ihrer Darstellung des Alterungsprozesses des weiblichen Körpers empfunden wurden. Ebenso wurde die Zurschaustellung des nackten nicht idealisierten Frauenköpers als schockierend kritisiert.
Im Frankfurter Städel hängen die „Zwei Hexen“ von Hans Baldung Grien aus 1523. Diese zwei unbekleideten Frauen stehen offenkundig im Bund mit dem Teufel. Denn ein Bock schaut aus ihren Beinen hervor. Damals glaubten die Leute, dass sich Hexen mittels Tieren wie dem Bock durch die Lüfte bewegten; nachdem sie eine Flugsalbe aufgetragen hatten.

Hans Baldung Grien kennen wir bereits aus der Städelführung mit Pfarrer Schnell im Sommersemester 2025: „Wer dem herausfordernden Blick der Frauen nicht widersteht, läuft Gefahr, sich mit der Seuche anzustecken. Erschrocken blickt der kleine Amor auf das Unheil, für das er sich mitschuldig fühlt,“ wäre eine Erklärung zu „Zwei Hexen“ von Hans Baldung gen.Grien (Schwäbisch Gmünd 1484/85 – Straßburg 1545. „Hexen“ war auch ein Thema in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe. „Unbändige Frauen“ mit besonderen Fähigkeiten und ihre Verortung in der Natur wurde von den Feministinnen der 70er Jahre aufgegriffen und umgedeutet als „Sinnbild weiblicher Kraft und Naturverbundenheit“.
Gegen die zwei Hexen des Städels wirkt die Hexe aus der Oper Hänsel und Gretel geradezu zivilisiert. Sie reitet keinen Bock, sondern bekanntlich nur einen Besen. Die zwei Hexen von Baldung sind aber jugendlich schön, haben sie sich doch mit einem Zaubertrank verjüngt, dass die eine Hexe noch in der Hand hält. Das Bild der alten Frau als Hexe passt, in einer immer älter werdenden Gesellschaft in Deutschland, nicht mehr zu einer angemessenen Darstellung älterer Frauen – es sei denn, man spielt bewusst mit dem Thema Alter, wie es in der Neuinszenierung von Seid nett zu Mr. Sloane getan wird.

Die Regie von Marlon Tarnow weigert sich, das Stück Mr. Sloane als einfache „harmlose“ Klamotte aus den 1960er Jahren auf die Bühne zu bringen. Mit dem Thema, wie geht die Gesellschaft mit Sex im Alter in einer immer älter werdenden Gesellschaft um, hat die Regie ein neues Tabuthema aufgedeckt, welches heute so brisant ist wie damals zur Entstehung des Stücks die Frage, dürfen Männer andere Männer lieben? Darf ein alter Mann einen jungen Mann sexuell begehren? Darf ein alter Mensch weiterhin seinem sexuellen Verlangen nachgehen, ohne dabei von der Gesellschaft als ‚pervers‘ oder ‚Lüstling‘ angesehen zu werden? Gibt es für sexuelles Verlangen eine Altersgrenze an der man aufhört, dieses zu empfinden? (Dazu das Städelbild von Alter Bauer und junges Mädchen von Wilhelm Leibl)
Gleichzeitig reduziert das Bild die Rolle der älteren Frau auf ein eindimensionales Negativbild, ähnlich wie das stereotype Porträt einer jungen Frau, die lediglich als „schöne Puppe“ dient, um ein Gegenbeispiel zu bilden. Historisch gesehen wurden Frauen, die von der Gesellschaft als „anders“ galten – etwa Heilerinnen, Kräuterfrauen oder verwitwete Frauen – häufig fälschlicherweise als Hexen gebrandmarkt.
Diese Darstellung von Hänsel und Gretel erschien der Regisseurin Nicola Raab offensichtlich als nicht mehr zeitgemäß. So wird die Hexe in dieser Inszenierung zu einem waschechten Showgirl auf einer Varieté‑Bühne – passend zum Spielzeitmotto des Staatstheaters „Ist das echt?“. Das Hexenhaus ist in dieser spannenden Neudeutung eine Miniatur, in der die Hexe später gesteckt wird. Also entpuppt sich das Hexenhaus als offen. Lustig ist auch der Einfall, Gretel in ein Kostüm einer klassischen Hexe zu stecken. Die Varieté‑Hexe übergibt Gretel den Hexenhut mit Mantel. So wird der Überlebenskampf der Kinder zu einer Show.
Schon im ersten Akt hat die Regisseurin Nicola Raab die Zuschauer positiv überrascht mit den vierzehn Engeln aus dem Gebet bzw. Gedicht „Abends wenn ich schlafen geh„. Es“ stammt aus der Feder von Adelheid Humperdinck-Wette ; Verfasserin des Textbuchs zu Oper Hänsel und Gretel von Engelbert Humperdinck. Raab zeigt vierzehn dunkle Elfen oder auch ‚Elben‘ , statt Engeln, weil sich Kinder heute dank Filmen wie Herr der Ringe – eher mit ‚Elben‘ als mit Engeln beschäftigen. Die Elfen sind schwarz gekleidet und erinnern dabei an die schwarze Romantik des 19. Jahrhunderts.
Die Lebkuchen kommen hier nicht vom Dach des Hexenhauses, sondern von einem Automaten. Die Kinder sind bei der Inszenierung mit Kostümen aus der heutigen Zeit ausgestattet.

Damit wird den Lebkuchendes Knusperhauses von Hänsel und Gretel ein Teil ihrer Bedeutungsaufladung des Essens genommen.Ging es doch ursprünglich um Träume, Sehnsüchte und Ängste, die sich rund um die Ernährung drehten und gerade in früheren Zeiten oft auch durch tatsächliche Not- und Elendssituationen entstanden sind. Das wunderbare Lebkuchenhaus im genannten Märchen kontrastiert nicht nur die tatsächliche Behausung der beiden im Wald verirrten Kinder, sondern gipfelt auch in der Erfüllung eines uralten Menschheitstraums. Im Schlaraffenland herrscht Nahrungsüberfluss, fließen Honig und Milch, wachsen Trauben in den Mund. Hier gibt es keine mühselige Arbeit, stattdessen einen Jungbrunnen, denn dieses Land im Nirgendwo ist auch zeitlos (dazu auch unser Beitrag „Schlaraffische Exzesse„)..
Was ist dagegen ein Automat, aus dem man sich wie im Selbstbedienungsladen beliebige Lebkuchen ziehen kann?
Doppeldeutig empfinde ich die Darstellung des nach Hause kommenden Vaters. Oftmals wird er als ein besoffener Mann dargestellt. In dieser Inszenierung teilt er seinen Verkaufserlös seiner Besen mit seiner Frau und lädt diese in ein ‚Café Wunderbar‘ ein. Der Besenbinder ist hier kein Egoist nach Falko – die ganze Welt dreht sich um mich, sondern bemüht sich um die Gunst seine Frau. Vergisst dabei aber in der trauten Zweisamkeit des Cafés die eigenen Kinder. Ist das wirklich netter, als der Vater, der nach Hause kommt und für seine Verkäufe gelobt werden will?
Auch die Rolle der Mutter kann zumindest zwiespältig aufgefasst werden. Nachdem der zerbrochene Krug durch Hänsel entstanden ist, wird sie böse auf die Kinder. Aber sie schickt die Kinder nicht als ‚drakonische Strafe‘ in den düsteren Wald. Wobei es durchaus strittig ist, ob dies nicht, wie oben bereits angdacht wurde, traditionell eher aus der Not heraus, gemeinsam zu verhungern, geschah. Vielleicht ist der Wald auch einfach nur eine Möglichkeit, metaphorisch betrachtet, ins Ungewisse zu gehen, um zu Reife und Eigenständigkeit zu gelangen.
Versteht man das Märchen allerdings als „schwarze Pädagogik des 19. Jahrhunderts“, dann tat die Liberettistin Adelheid Wette Recht daran, die metaphorische Bedeutung von ‚in den dunklen Wald schicken‘ nicht mehr auf die Kinder anzuwenden.
Zugegeben, der Wald ist in der Inszenierung von Raab auch ziemlich finster und nicht sehr fröhlich. Die schwarzen Kreise im Hintergrund des Waldes könnten den Zuschauer an ein berühmtes Gemälde von Vincent van Gogh erinnern. Es heißt Sternennacht. Es zeigt einen dramatischen Nachthimmel voller wirbelnder Sterne.

Die „Sternennacht“ von Vincent von Gogh vereint den „Taumel der Sinne, den inneren und den kosmischen Schwindel“, erklärt der Kurator in unserem Beitrag „Die Magie der Nacht in der Kunst„. Für van Gogh bedeute die Nacht Erneuerung, aber um zu einem Stern zu gelangen, müsse man durch den Tod (oder den dunklen Wald) gehen.
Diese Idee greift das Bühnenbild von Danila Travin im Darmstädter Hexenwald künstlerisch auf. Auch „Der Sandmann“ kommt als Kapuzenwesen mit leuchtender Kapuze daher und wirkt nicht gerade freundlich, sondern etwas verwunschen. Dafür sind die vierzehn Elfen freundlich zum Publikum. Sie verschenken leuchtende Sterne an das Publikum.

Der Sandmann ist auch ein Dauerbrenner und wir beschrieben ihn im Kontext zu KI in der Aufführung am Schauspiel Frankfurt. E T.A. Hoffmanns Erzählung fasziniert immer wieder durch seine Thematik, in der neben Ängsten und Liebe auch Wirklichkeitswahrnehmung und Wahn eine Rolle spielen.
Insgesamt bietet diese moderne Interpretation von Hänsel und Gretel ein faszinierendes Zusammenspiel von Tradition und zeitgenössischer Ästhetik, das besonders in der Weihnachtszeit den Anspruch hat, ein ‚kindgerechtes‘ Vorbild für Mut, Gleichberechtigung und kreative Neuinterpretation der Hexenfigur darzustellen. Das Hexenbild wird modernisiert und ein ausgewogeneres, respektvolleres Frauenbild gefördert.
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