You are currently viewing Schlaraffische Exzesse

In unserem Seminar „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“ sprachen wir unter anderem über die Bedeutungsaufladung des Essens: es geht dabei um Träume, Sehnsüchte und Ängste, die sich rund um die Ernährung drehen und gerade in früheren Zeiten oft auch durch tatsächliche Not- und Elendssituationen entstanden sind. Deutlich wird dies in Märchen wie „Hänsel und Gretel“. Bittere Not zwingt die Eltern (Vater und Stiefmutter!) dazu, die Kinder in eine unvorhersehbaren Zukunft zu schicken. Doch wie wir alle wissen: Alles wird gut am Ende …!

Das wunderbare Lebkuchenhaus im genannten Märchen kontrastiert nicht nur die tatsächliche Behausung der beiden im Wald verirrten Kinder, sondern gipfelt auch in der Erfüllung eines uralten Menschheitstraums. Im Schlaraffenland herrscht Nahrungsüberfluss, fließen Honig und Milch, wachsen Trauben in den Mund. Hier gibt es keine mühselige Arbeit, stattdessen einen Jungbrunnen, denn dieses Land im Nirgendwo ist auch zeitlos.

Dem real existierenden Mangel und den daraus resultierenden Schlaraffenlandträumen wich im 19. Jahrhundert, mit wachsender Industrie, der Traum vom Überfluss. E. T. A. Hoffmann zelebriert ihn in seinem Kunstmärchen von „Nussknacker und Mäusekönig“. Nicht nur, dass dieser literarische Stoff als für Kinder unangemessen galt, weil er gegen zeitgenössische pädagogische Konzepte verstieß, vielmehr verlangte er zudem ein Umdenken, dessen was als „kindgerecht“ zu erachten sei. Im Nussknacker-Märchen geht es im Kern im doppelten Sinne um das „knacken einer harten Nuss“.  

(1816) macht E.T.A. Hoffmann das weihnachtlich geschmückte Haus einer wohlhabenden Familie zur Märchenkulisse, indem ein freundlicher Nußknacker nachts zum Leben erwacht. Dem gegenüber steht das Böse in Form eines Mäuseheeres, das nachts aus seinen Löchern hervorquillt und vom siebenköpfigen Mausekönig angeführt wird. Marie und Fritz, die den Nussknacker auf dem weihnachtlichen Gabentisch finden, gehen recht unterschiedlich mit ihm um. Fritz gibt ihm harte Nüsse zu kauen, Marie verteidigt ihn gegen das Mäusepack. Zum Dank wird sie vom Nussknacker, der sich später als durchaus menschliches, nur verzaubertes, Wesen erweist, in ein Zuckerreich entführt, das seinesgleichen sucht. Die Literaturwissenschaftlerin Tanja Rudtke ist begeistert vom Detailreichtum mit dem dies der Romantiker Hoffmann schildert und somit einen Augenschmaus und Ohrenschmaus für Leser und Hörer der Geschichte präsentiert.

Aber auch Erwachsene kommen bei E.T.A. Hoffmann und seinen „Punschexzessen“ nicht zu kurz. Ob nun aus der Not geboren oder weil Punschkränzchen gerade zu Weihnachten eine besondere Rolle spielten, wie Rudtke beschreibt: „Der Punsch ist ein ganz besonderes Getränk und es ist im 19. Jahrhundert eine Mode gewesen, Punschkränzchen abzuhalten. E.T.A. Hoffmann hat sehr häufig vom Punsch gesprochen und auch andere Autoren dieser Zeit. Es ist ein spirituelles Getränk. Es ist auch ein typisches Wintergetränk natürlich und beim Genuss dieses Punsches kann man durch den spirituellen Geist auch eine Grenze überschreiben in eine Fantasiewelt. Das ist bei E.T.A. Hoffmann der Fall. Also die Punschgesellschaft landet in höheren Sphären, zumindest diejenigen, die bereit dafür sind.“

In eine solche Punschrunde passt auch „Der goldene Topf“, ein Kunstmärchen Hoffmanns, das 1814 erschien. Die reale Welt des bürgerlichen Dresdens überschneidet sich hier mit der Fantasiewelt Atlantis. Das Verhältnis zwischen Fantasie und Realität ist folglich ein zentrales Thema der Handlung.

Kurz zusammengefasst: Der Student Anselmus verliebt sich in die Schlange Serpentina, Tochter eines mächtigen Zauberers, der einst ein Salamander in Atlantis war. Heute ist er Archivar und Anselmus und Serpentina arbeiten zusammen an wertvollen Dokumenten für ihn. Eines Tages erzählt Serpentina über ihren Vater: „Im Garten des Geisterfürsten Phosphorus traf er einmal eine grüne Schlange, entbrannte in Liebe zu ihr und wollte sie heiraten. Doch Phosphorus riet ihm davon ab: Die Schlange werde sich in ein Luftwesen verwandeln und davonfliegen. Der Salamander ignorierte die Warnung. Als dann die Prophezeiung des Phosphorus tatsächlich eintrat, brannte er aus Verzweiflung über die verlorene Liebe den Garten des Geisterfürsten nieder. Zur Strafe verbannte ihn Phosphorus auf die Erde zu den Menschen. Dort bekam er drei Töchter mit jener grünen Schlange. Diese singen stets im Frühjahr in Holunderbüschen, wo sie darauf warten, von Jünglingen mit kindlich poetischem Gemüt gehört zu werden. Erst wenn alle drei auf diese Art Liebe finden, wird der Salamander erlöst werden.“

Und bereit sind sie, die Punschrundengäste in E.T.A. Hoffmanns Erzählung „Der goldene Topf“, wie man bei Tanja Rudtke (im Deutschlandfunk von Miriam Zeh 2015 ) nachlesen und nachhören kann, als allesamt durch das bewusstseinserweiternde Getränk völlig außer sich geraten:

„’Salamander – Salamander bezwingt sie alle – alle‘, brüllte der Konrektor Paulmann in höchster Wut; ‚- aber bin ich in einem Tollhause? bin ich selbst toll? – was schwatze ich denn für wahnsitziges Zeig? – ja ich bin auch toll – auch toll!‘ – Damit sprang der Konrektor Paulmann auf, riss sich die Perücke vom Kopfe und schleuderte sie gegen die Stubendecke, dass die gequetschten Locken ächzten und, im gänzlichen Verderben aufgelöst, den Puder weit herumstäubten. Da ergriffen den Student Anselmus und der Registrator Heerbrand die Punschterrine, die Gläser und warfen sie jubelnd und jauchzend an die Stubendecke, dass die Scherben klirrend und klingend herumsprangen.“

Angesichts dieses orgiastischen Punschexzesses sei es nachvollziehbar, warum der Literaturwissenschaftler Bernhard Setzwein Punsch als das „Crystal Speed des Biedermeiers“ bezeichne.