Immer wieder erfreut uns Frau Dr. Winckler mit Ihren interessanten Beiträgen zu Kultur und Reisen. Auch heute hat Sie wieder einen spannenden Artikel für uns verfasst, der uns einlädt auf ihren Spuren in die Vergangenheit zu wandeln. Herzlichen Dank liebe Anne!
Begegnung mit der Vergangenheit in einem Schloss bei Berlin
Diesmal ist Berlin eigentlich nur Durchgangsstation auf dem Weg nach Stralsund. Aber da ich gefühlsmäßig immer einen Koffer in Berlin stehen habe, gönne ich mir einen kleinen Kurzaufenthalt.
Es lockt mich, wie schon im September letzten Jahres, wieder ein Schloss, diesmal allerdings nicht direkt in Berlin und auch kein Nachbau eines zerstörten Gebäudes. Dieses Schloss liegt vor den Toren der Stadt und ist tatsächlich ein historischer Bau, der den 2. Weltkrieg relativ unbeschadet überstanden hat.
Das mit der Ortsangabe ‚Tore der Stadt‘ ist so nicht ganz zutreffend, richtigerweise müsste es heißen ‚vor der Brücke der Stadt‘. Es ist die Glienicker Brücke, die Berlin mit Potsdam verbindet und über die man sich dem Schloss nähern kann. Direkt an diese Brücke grenzt der Neue Garten, in dem von 1913 bis 1917 im Auftrag von Kaiser Wilhelm II das Schloss Cecilienhof für Kronprinz Wilhelm und dessen Gattin Cecilie errichtet wurde.
Da man englische Verwandtschaft hatte – Kaiser Wilhelm war ein Enkel von Queen Victoria – und bei Aufenthalten auf deren Landsitzen Gefallen an der dortigen Bauweise gefunden hatte, wurde Schloss Cecilienhof im englischen Landhausstil errichtet. Die Familie des Kronprinzen bezog das Schloss im August 1917. Es sollte aber nur ein kurzer Aufenthalt werden. Der Kronprinz ging 1918 wie sein Vater ins holländische Exil, Prinzessin Cecilie zog mit den Kindern zunächst ins Marmorpalais und später nach Schlesien. Der Familie Hohenzollern wurde 1926 ein lebenslanges Wohnrecht eingeräumt, das aber mit dem Einmarsch der sowjetischen Armee 1945 hinfällig wurde.
In diesem Schloss Cecilienhof fand nach dem Ende des 2. Weltkriegs vom 17. Juli 1945 bis zum 2. August 1945 die Potsdamer Konferenz statt. Die sowjetischen Besatzer fungierten als Gastgeber, der aus roten Blumen in der Rasenfläche gebildete Stern legt, nach wie vor, Zeugnis davon ab. Die drei Siegermächte Sowjetunion, USA und Großbritannien beschlossen auf dieser Konferenz unter anderem die Aufteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen und verschoben das polnische Staatsgebiet nach Westen, was zur Zwangsumsiedlung von Deutschen vor allem aus Polen, Russland und der Tschechoslowakei führte. Frankreich als vierte Siegermacht stimmte diesen Beschlüssen später zu.
Die DDR errichtete in den Räumlichkeiten später eine Gedenkstätte an diese Konferenz, außerdem wurden Teile des Gebäudes als Hotel genutzt. Nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten 1990 blieb zunächst der Hotelbetrieb bis 2013 aufrechterhalten. In den nächsten 5 Jahren fand eine umfassende Außensanierung statt. Eine neuerliche Nutzung als Hotel scheint nicht ausgeschlossen.
Die Räume, in denen die Potsdamer Konferenz stattfand, können weiterhin besichtigt werden. Seit 1995 sind auch einige Privaträume des Kronprinzenpaares wieder hergerichtet und zur Besichtigung freigegeben.
Das Schloss stand zwar schon eine Weile auf meiner Liste der Orte, die ich mir in und um Berlin mal anschauen wollte, aber irgendwie kam es nie dazu. Nun ist es so weit. An einem strahlend schönem Sommertag steige ich an der Glienicker Brücke aus dem Bus. Schon hier ergreift mich ein wenig der historische Grusel. Das ist die Brücke, auf dem im sogenannten ‚Kalten Krieg‘ Agenten ausgetauscht wurden. Diese Gegend lag im Niemandsland des Grenzgebiets zwischen der DDR und West-Berlin. Das Ufer des Jungfernsees auf der einen Seite und des Tiefen Sees auf der anderen Seite durfte nicht betreten werden. Ich kann mich noch gut an die Zeit erinnern, als West-Berlin eine Insel war.
Nun laufe ich im sonntäglichen Frieden auf geschichtsträchtigen Boden am See entlang. Mehr als 100 Jahre deutsche Geschichte haben sich hier auf engem Raum versammelt. Sie gehören wohl auch zu mir, denn ich bin Teil dieses deutschen Volkes. Bisher hat es mich diese Tatsache allerdings eher weniger berührt. Natürlich war das deutsche Kaiserreich auch Gegenstand des Geschichtsunterrichts in meiner Schulzeit. Und der Kaiserenkel Prinz Louis Ferdinand und dessen Frau geisterten, als ich anfing zum Friseur zu gehen, durch die dort ausliegenden bunten Blätter. Sie erschienen mir aber eher wie Märchenfiguren und verschwanden irgendwann in der Versenkung.
Aufmerksam geworden auf diesen kaiserlich-preußischen Historienhintergrund bin ich erst wieder durch das Buch ‚Die Hohenzollern und die Nazis – Geschichte einer Kollaboration‘ von Stephan Malinowski. In diesem Buch geht es um die Frage, ob den Nachkommen des letzten Kaisers nicht schon deshalb die von ihnen geltend gemachten Restitutionsansprüche versagt werden müssen, weil Kaiser Wilhelm der II. und vor allem sein Sohn, Kronprinz Wilhelm, dem Naziregime erheblichen Vorschub geleistet haben. Die Nachfahren des letzten Kaisers und seines Sohnes weisen dies zurück. Malinowski schreibt nun eine von der Binnensicht der Hohenzollern abweichende Familiengeschichte und kommt deshalb zu anderen Schlüssen.
Waren Kaiser und Kronprinz und dessen Frau Cecilie für mich tief in der Vergangenheit befindliche historische Gestalten, werden sie beim Lesen dieses spannenden Buches und vor allem beim Betreten des Gebäude, in dem sie aus und ein gegangen sind, plötzlich zu leibhaftigen Menschen. Ich sehe die noch völlig intakten Badezimmer, die ihren körperlichen Bedürfnissen gedient haben, sowie Teile des Mobiliars, das sie täglich benutzt haben. Ich bestaune den kleinen Balkonerker im Schlafzimmer, in den Cecilie den Gatten verbannte, wenn er rauchen wollte, und er rauchte wohl ständig. Der Raum, der auf Wunsch von Prinzessin Cecilie wie eine Schiffskajüte ausgestaltet ist, ist noch originalgetreu bis ins letzte Detail erhalten. Ich würde mich da auch wohlfühlen. Wie nah das alles wirkt und ist doch über ein Jahrhundert entfernt.
Eine Führung später, betrete ich die Räume in denen Churchill (später aufgrund der Wahlniederlage Churchills, der neue britische Premierminister Attlee), Roosevelt und Stalin 1945 Europa neu ordneten. Eine riesige Halle mit dem Tisch an dem die Teilnehmer saßen, daneben die Arbeitszimmer der jeweiligen Delegationsführer. Über den Audioguide gibt es unendlich viele Informationen über den Inhalt und auch die Form der Verhandlungen. In den Zimmern stehen lebensgroße Pappversionen der wichtigsten Teilnehmer.
Ja, so wird Geschichte lebendig.
Als ich 1953 geboren wurde, waren die Vereinbarungen dieser Konferenz noch ganz junge Vergangenheit, nun liegen sie schon mehr als 75 Jahre zurück. Sie haben auch mein Leben geprägt, ohne dass es mir bewusst war.
Nachdenklich fahre ich nach Berlin zurück.