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„Von der Lust an der Kreuzfahrt. Flanieren auf See“ so betitelt Michael Reitz, studierter Philosoph und Kunstgeschichtler seinen Beitrag 2018 im Deutschlandfunk. Dabei geht es um Menschen „auf schwimmenden Luxushotels“, die sich vermehrt einen „Lustgewinn“ durch organisierte Kreuzfahrten versprechen. Der „Flaneur“ ist ein Begriff den Baudelaire nach dem Lesen eines Romans von Edgar Allen Poe einführte und der, vor allem durch die Essays von Walter Benjamin für den Spaziergänger und Beobachter der Großstadt Bedeutung erlangte. Der bekannte Soziologe Zygmunt Bauman1 bezeichnete in „Flaneure, Spieler und Touristen“ 2007 den postmodernen Menschen als „Homo Ludens“ des 21. Jahrhunderts, dem ein immenses Waren- und Freizeitangebot zu überfluten droht.

Der typische moderne Mensch sei gewissermaßen ein Nachfolger der früheren Pilger, ein Utopist, der das Wahre und Gute immer an einem anderen Ort vermutet. Wie sieht das Lebensbild des Pilgers in einem Früher und Heute aus? Die irdische Pilgerfahrt war bis in die Epoche der Moderne ein Weg und ein Leben hin zu Gott: Der “richtige Lebensweg” gab dies klare Bild vor, mit festgeschriebenen Wegen, Regeln, Gesetzen und Geboten. Bauman beschreibt nun das Leben in westlichen Gesellschaften ab der Reformation bis ins zweite Drittel des 20. Jahrhunderts, soziologisch betrachtet als postmoderne “Pilgerreise”. Idealer Ort des Pilgers wäre, so Bauman, die Wüste, weil man da nicht wie in der Vielzahl der Möglichkeiten der Städte vom richtigen Weg abkomme. „Innerweltliches Pilgern“ bedeute heute im bürgerlichen Alltagsleben, auf Pilgerreise zu gehen, ohne dabei die Heimat zu verlassen.

Das Leben in der Spätmoderne des 20. Jahrhunderts hat an Beständigkeit und Klarheit verloren. Nicht ethische Weisheit, die sich früher dem Rechtschaffenen quasi von alleine offenbarte, sondern Pilgerschaft, im Sinne von ständiger Suche und Neuorientierung, sei heute zur Notwendigkeit geworden.  Baumann formuliert das so: „… man muss sein Leben als Pilgerreise leben, um nicht in der Wüste verloren zu gehen – in einem Land ohne Bestimmung muss man dem Wandern einen Zweck unterlegen…“ Die Ziele des Pilgers würden mehrdeutiger, die Struktur des Pilgerns in Frage gestellt, weil es keine gemeinschaftlich getragene Verbindlichkeit mehr gäbe, so die These von Bauman.
In diesem Sinne hieße das dann für mich, anknüpfend an die „Lust an der Kreuzfahrt und dem Flanieren auf See“: eine gebuchte Kreuzfahrt anzutreten könnte auch der Versuch sein, alte Werte wie Gemeinschaft, vorgegebener Weg, gemeinsames Ziel, Flucht vor Übersättigung, Einsamkeit oder die Sehnsucht nach etwas Beständigkeit zu stillen.

Zygmunt Bauman spricht von der Mitte zwischen den beiden Polen des „Anfangs“ – oder der Tyrannei der Möglichkeiten – und des „Endes“, wo Gewissheit um den Preis der Freiheit erkauft werde. Spontan fällt mir da die viel zitierte Barclay Freiheits-Studie von 2017 ein, die danach fragt, welche Bedeutung Freiheit in Deutschland, das als eines der freiesten Länder gelte, habe. In den dazu geführten tiefenpsychologischen Interviews war dann zu erkennen, dass diese Freiheit der unbegrenzten Möglichkeiten den Menschen Angst bereitet Man wünscht sich verbindliche Grenzen, Regeln und Gesetze. Grenzenlosigkeit würde die Freiheit ernsthaft gefährden. Auf Kreuzfahrten angewendet heißt das in meiner Interpretation, man wünscht sich Freiheit, die das Meer suggeriert, aber bitte auf einem Schiff, in genau geregeltem Rahmen, Bedingungen und Grenzen. Oder der Grenzenlosigkeit des Meeres wird ein genau begrenztes Areal an Bord des Kreuzfahrtschiffes entgegengesetzt.

Zygmunt Bauman nutzt Metaphern um die postmodernen Pilger näher zu typisieren: der Flaneur (oder Spaziergänger), der Vagabund (oder Spieler), der Tourist (oder Weltenbummler).

Zuerst findet man die Metapher des Flaneurs. Hier zieht Baumann das englische Wort der „mall“ als Zeichen der Veränderung heran. Während „malls“ früher Promenaden zum Flanieren oder Spazieren bezeichneten, finde man heute riesige „shopping malls“, in denen der Konsum in Vordergrund stehe. Zum Wohlfühlen an Bord gehören heute „malls“, die mit entspanntem Flanieren und Einkaufsvielfalt werben. Der „Neue Wall“ bei „Mein Schiff“ ist sogar nach der berühmten Edeleinkaufstraße der Hamburger Innenstadt benannt.

Der Vagabund als zweite Metapher nach Bauman, sei heimat- und herrenlos. „Herrenlosigkeit“ (außer Kontrolle sein, aus dem Rahmen fallen, sich auf freiem Fuß befinden) war ein Zustand, den „die Moderne nicht ertragen konnte, weshalb sie den Rest ihrer Geschichte damit verbrachte, ihn zu bekämpfen“, informiert Bauman, und weiter: „Der Vagabund ist nicht mehr Vagabund, weil er die Seßhaftigkeit scheut oder schwierig findet, sondern weil es nur noch wenige Orte der Seßhaftigkeit gibt. Jetzt ist es sehr wahrscheinlich, daß die Leute, die er auf seinen Reisen trifft, ebenfalls Vagabunden sind – heute oder morgen. Die Welt holt den Vagabunden ein, und sie holt ihn schnell ein. Die Welt entwirft sich neu, und der Vagabund ist ihr Vorbild“. Zygmunt Bauman hatte weniger die Kreuzfahrten im Blick beim Formulieren seiner Gedanken, aber an seine Theorie sich anlehnend könnte man sagen: Eine gewisse „Ortslosigkeit“ zu lieben scheint eine gute Strategie, denn die „dauerhaft ansässigen“ Bewohner wachen auf und entdecken, dass die Orte (in einer Gegend, in der Gesellschaft und im Leben), wo sie „hingehören“, immer weniger existieren. Im Unterwegssein winken andere, noch unerprobte Orte, die vielleicht gastfreundlicher sind und sicherlich neue Möglichkeiten bieten…  

Die dritte Metapher betrifft den Touristen, der nicht wie der Vagabund aus der Welt „gestoßen“, sondern von der Sehnsucht nach unterschiedlichen Erfahrungen des Neuen „gezogen“ wird. Im Gegensatz zum Vagabunden, der sich mit dem Zustand der Heimatlosigkeit abfinden muss, hat der Tourist ein Zuhause, oder sollte zumindest eines haben. Das gehört zum Sicherheitspaket (auch bei Kreuzfahrten) dazu wie Bauman es formuliert: „Wenn die Freude ungetrübt und umfassend sein soll, dann muß es irgendwo einen häuslichen und gemütlichen, unzweifelbar eigenen Ort geben, an den man zurückkehrt, wenn das Abenteuer vorbei ist oder die Reise sich nicht als so abenteuerlich herausstellt wie erwartet. Das Heim ist der Ort, wo man die Rüstung abwirft und die Koffer auspackt – der Ort, wo nichts bewiesen und verteidigt werden muß, weil alles am richtigen Platz ist, selbstverständlich und vertraut“.

Anmerkungen:

1Der bekannte polnisch stämmige Soziologe Zygmunt Bauman (1925 – 2017) hat in zahlreichen Schriften streitbare und umstrittene Analysen der „Moderne“, „Postmoderne“ und „Flüchtigen Moderne“ vorgelegt. In sechs soziologischen Essays beleuchtet Bauman das fragmentarische Leben des modernen Menschen unter so verschiedenen Aspekten wie den Formen des Zusammenseins, dem Bild des Fremden, der Rolle der Gewalt und postmoderner Ängste. Im Journal für Psychologie stellen Heiner Keupp und Peter Mattes seine Gedanken vor.

Keupp, H., & Mattes, P. (1994). Zygmunt Bauman:
vorgestellt von Heiner Keupp und Peter Mattes. Journal für Psychologie, 2(4), 37-47.