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2019 planten wir „ÜberLebensKunst – das Projektlabor“. Wir wollten mit Studierenden der U3L über das Leben und die Kunst in Frankfurt forschen. Was heute nach dem Corona-Sommer 2020 fast prophetisch klingt, nämlich die Kunst des Überlebens in Zeiten der Pandemie, steckte damals noch in den Kinderschuhen. Und selbst in unseren kühnsten Träumen ahnten wir nicht, was uns da in Bezug auf die Pandemie erwarten würde.

Über eine Gesundheitsdiktatur quasi „medizinische Science-Fiction”, in der die Gesellschaft durch eine „Methode“ beherrscht wird, schrieb schon 2009 Juli Zeh in ihrem Zukunftsroman „Corpus delicti. Ein Prozess“. Was meint „die Methode“? Gesundheit wird zur ersten Bürgerpflicht. Das beinhaltet ein regelmäßiges Sportpensum und die Abgabe von Schlaf- und Ernährungsberichten. Es wird nicht empfohlen oder gebeten, sondern verlangt und kontrolliert. Was zunächst ganz vernünftig klingt, erschreckt vielleicht bei näherer Betrachtung. Gesundheit als Synonym für Normalität: „Das Störungsfreie, Fehlerlose, Funktionierende – Nichts anderes taugt zum Ideal“, so formuliert es Juli Zeh im Roman. Die Protagonistin Mia Holl verweigert sich dieser Staatswillkür und wird – in der Vorausschau – als Staatsfeindin zum Einfrieren verurteilt.

Das Buch wurde vor mehr als 10 Jahren geschrieben. Und doch wirkt es wie ein Kommentar zu „ÜberLebensKunst“ im Kontext von Freiheit und Staatswillkür. Der Mensch als „Körpermaschine“, ein „Stück biologisches Leben“, das verbessert, verwaltet und betreut werden muss, so lese ich es in der Besprechung der FAZ bei Julia Encke unter dem Titel „Bloß nicht bewegen“.  Um sein Wohlbefinden zu optimieren und damit Kontrolle und Steuerung von Lebensgewohnheiten zuzulassen, muss man eben den Preis zahlen. Zu stören scheint das in der Bevölkerung wohl niemanden. Zumindest scheint es so, als wollten alle Überwachung, denn brav liefern sie Hygieneproben ab und verlassen das Haus nur noch mit Mundschutz.

„ÜberLebensKunst“ als Widerstand gegen ein Gefühl des Willens und der Willkür einer Mehrheit. Warum sich auch widersetzen, wenn der Staat sich doch so um das Wohl der Bürger sorgt und schließlich dient ja auch alles einem guten Zweck… Eine einzelne Frau gegen eine neue Herrschaft, sie zeigt eigentlich die Kunst des Willens zum Überleben, sie kämpft gegen Freiheitverlust an und verliert am Ende. Und doch kann man viel daraus lernen, wenn die Protagonistin in „Corpus Delicti“ sagt: „Ich entziehe einem Staat das Vertrauen, der besser weiß, was gut für mich ist, als ich selbst.”

2020 erschien dann „Fragen zu ‚Corpus Delicti‘ das neue Buch von Juli Zeh, indem sie sich selbst mit den Betrachtungen, Bedingungen und Mentalitäten auseinandersetzt, die heute unser Leben bestimmen – ein fiktives Interview, das wir vielleicht alle in Zeiten der „ÜberLebensKunst“ mit uns selbst führen sollten.