Du betrachtest gerade Kommentar zu Nosferatu, Dracula und die Angst vor dem „Fremden“

Unser Beitrag zu der vagabudierenden Angst vor dem Fremden hat zu zahlreichen Kommentaren angeregt. Stellvertretend hier ein Kommentar, der sich am Beispiel der literarischen Figuren Dracula und Nosferatu mit Xenophobie beschäftigt, die weiter gedacht auch konstitutiv für Gruppen, Gesellschaften und Staaten sein kann und in ihrer aggressiven Form zu Exzessen führt. Mit herzlichem Dank an den Kommentator!

Ein zentrales Thema beider Filme ist das Gefühl des Nonkonformisten.

Die literarische Figur des Nosferatu verkörpert das hässlich-überzeichnete Bild des Fremden, das sich von der gesellschaftlichen Norm abhebt. Der Fremde ist jemand, der von außen kommt und sich von den ’normalen‘ Einwohnern unterscheidet. Während der ’normale‘ Einwohner in einer vertrauten Umgebung lebt, symbolisiert der Fremde oft das Unbekannte und Furcht gebietende.

Der Figur des Fremden begegnet man in der Literatur häufig. So erzählt Albert Camus‘ Roman „Der Fremde“ (1942) die Geschichte eines Mannes, der „absichtslos“ zum Mörder wird. Geschildert wird ein Protagonist ohne Bindung, ohne Liebe und Teilnahme, der zur Gleichgültigkeit mutiert und ein Außenseiter der Gesellschaft ist, bis er geblendet von der Sonne, einen Araber am Strand erschießt. Ein Fremder, der letztlich aus der Gesellschaft ausgeschlossen bleibt, ist auch „Peter Grimes“, dem wir ein Interkulturelles Gespräch widmeten.

In Nosferatu wird dieser Kontrast zwischen fremd und vertraut durch die Kulisse von dem ihm zugeschriebenen ‚chaotischen‘, ‚abartigen‘ Transsylvanien und seinem Gegenbild, dem ‚sauberen‘, ‚normalen‘ London verdeutlicht. Transsylvanien, mit seinen wilden, ungezähmten Landschaften, steht im Gegensatz zu den geordneten, zivilisierten Straßen Londons. Diese Gegensätze verstärken die Wahrnehmung des Fremden als beängstigend. Menschen haben oft Vorurteile gegen Fremde, weil das Unbekannte Unsicherheit und Angst in ihrem Inneren auslöst. Diese Vorurteile manifestieren sich in Stereotypen und Misstrauen gegenüber dem, was anders oder neu ist. Beispielhaft dafür steht die Angst vor kulturellen Unterschieden oder der Glaube, dass Fremde eine Bedrohung für die eigene Lebensweise darstellen könnten.

Nosferatu als Monster verkörpert diese Ängste, indem er als schauerlicher und bedrohlicher Eindringling dargestellt wird, der die Sicherheit und Ordnung der bekannten Welt stört. Diese Darstellung spiegelt die tief verwurzelten Ängste wider, die Menschen gegenüber dem Fremden hegen.

Der Name “Nosferatu“ stellt eine Abwandlung von “Dracula“ von Bram Stoker dar

Als einen Skandal wird die Verweigerung der Rechte zur Verfilmung von Bram Stokers „Dracula“ angesehen. Also . verwandelt der Regisseur Friedrich Wilhelm Murnau in seinen Vampir „Nosferatu“, verändert ein paar Details und dreht ohne die Erlaubnis von Stokers Erben. Als Stummfilm-Klassiker wird er 1922 uraufgeführt und spiegelt die Ängste der Menschen in der Weimarer Republik. „Nosferatu“ hat als eigenständige Interpretation des Vampir-Mythos überlebt und seine eigene kulturelle Bedeutung erlangt. Die Faszination für Vampire hält bis heute an, weil sie das Unsterbliche und Verbotene verkörpern.

Die Mischung aus Gefahr und Anziehungskraft macht sie zu einer reizvollen Figur für die Popkultur. Deshalb wurde der Stoff der Romanvorlage Dracula 2024 auf die Theaterbühne des Schauspiel Frankfurts gebracht, dazu auch unser Beitrag „Das Monster überwinden – Dracula in Frankfurt“. Auch die Aufführung “Dracula“ am Schauspiel Frankfurt in 2024 spielt auf diese Ängste an. Die Angst ließ die Menschen rund um Dracula innerlich erstarren. In der Frankfurter Inszenierung wurde bewusst auf ein schreckliches Äußeres verzichtet, anders in den Nosferatu-Filmen. Die Inszenierung setzte auf sparsame Gesten der Darsteller. Dafür waren die Darsteller stets in Bewegung.

Die Inszenierung von Johanna Werner kam ohne große Gruseleffekte aus, sondern zeigte die innere Einstellung der Londoner Gesellschaft zum fremden Grafen. Werner sieht das Stück Dracula als Studie über das menschliche Verhalten an. Dracula zeigt auf, wie eine Gesellschaft auf eine vermeintlich äußere Bedrohung reagiert und versucht diese abzuwehren. Dracula passt nicht in diese wohlgeordnete Welt hinein. Deshalb muss der Graf ein Monster bzw. ein Vampir sein. In Werners Fassung ist der Graf kein Vampir, sondern wird von seinen Mitmenschen zum Vampir gemacht. Das Wort Vampir steht in dieser Deutung für jemanden welcher der Gesellschaft bewusst schaden will. Darum wird er von Harker und seinen Freunden gestoppt.

Bemerkenswert an der Frankfurter Inszenierung war die Darstellung Draculas, gespielt von Matthias Redelhammer. Seine Darstellung war besonders gruselig, weil er eine bedrohliche Präsenz ausstrahlte. Das fürchterliche Aussehen gab es nicht auf der Bühne zu sehen, sondern entstand in den Köpfen der Gesellschaft. Trotz seiner hochwohlgeborenen Stellung als Graf gehört Dracula nie zur Londoner Oberschicht. Schließlich kennt er die Regeln und Codes dieser Schicht nicht. Sein falsches Reagieren auf die Gesellschaft macht ihn in der Frankfurter Aufführung zum Sonderling. Er wird nicht bekämpft, weil er ein Vampir ist, sondern weil er nicht nach den Regeln der Gesellschaft spielt. Aus dieser Logik heraus wird der Graf dämonisiert.

Denn trotz seiner unerklärlichen furchteinflößenden äußeren Erscheinung zeichnete sich seine Garderobe durch eine gewisse Eleganz aus, die einen faszinierenden Kontrast zu seinem regelwidrigen Verhalten bildete. Seine gewählte Sprache ist fein und kultiviert, was im starken Gegensatz zu seinem als dreist empfundenen Benehmen steht. Aufgrund seines Benehmens weckt er die Missgunst seiner Mitmenschen. So wird der Graf in Frankfurt von seinen Mitmenschen zum Dämon gemacht, ohne es tatsächlich zu sein.

Nosferatu und Dracula als Verkörperung des „Fremden“

Die zentrale Gemeinsamkeit, die den Originalfilm Nosferatu, seiner Neuinterpretation, sowie des Theaterabends Dracula am Schauspiel Frankfurt verbindet ist die Verkörperung des monströse und furchteinflößenden Bild des Fremden, das sich von der Mehrheitsgesellschaft abhebt. Dracula zeigt dieses Gefühl des ‚Wir gegen den Anderen‘. Dracula ist eine Chiffre über das Anderssein des Ausländers, vor dem die Gesellschaft Angst hat. Folglich bleibt die Geschichte, der Mythos, von Dracula/Nosferatu und anderen finsteren Fremden, die in die soziale Ordnung eindringen und sie stören, für die Bühne als auch für den Film so attraktiv, als Motiv wie als ein brandaktuelles Thema.

Die Menschen fürchten sich vor Dracula oder Fremden, weil es leichter zu begreifen ist, einen Schuldigen zu benennen, als an das ‚zufällige Unglück‘ zu glauben, welches in einer geordneten Gesellschaft plötzlich hereinbrechen kann. Sich anders verhalten, anders aussehen, plötzliche Veränderungen im Umfeld, verbunden mit unerklärlichen Unglücksfällen, das hat schon immer den Hexenglauben ausgemacht. Dahinter steckt die Hoffnung, dass in einer geordneten Gesellschaft Unglücke vermieden werden könnten. Eine ‚Halbwahrheit‘ wäre dann, der Einbruch des Fremden weckt böse Vorahnungen, bedeutet Unheil und stellt somit eine Sicherheitslücke in einer ansonsten geordneten Welt dar.

In dem Roman Dracula wird, ganz anders als im heutigen Vampirfilm, Draculas vermeintliche böse Tat nur angedeutet. Es könnten auch zufällige Unglücke sein. Nicht nur die englische Gesellschaft des 19. Jahrhunderts brauchte aber einen Bösewicht (oder einen „Sündenbock“) und findet ihn in einem Fremden mit ‚seltsamen‘ Angewohnheiten. Weiter gedacht, geht damit eine Gefahr der Dämonisierung einher, der sich Hannah Ahrendt mit ihrer Wende zur „Banalität des Bösen“ widersetzte.

Eine andere ‚Halbwahrheit‘ würde besagen, der Fremde, das ‘Monster Dracula‘ gerät zum Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält: wir stehen zusammen gegen das böse Andere?  Braucht eine Gesellschaft diese Halbwahrheiten über den fremden Eindringling, den anders Denkenden, um den eigenen sozialen Frieden zu wahren? Bitte schreiben Sie mir Ihre Meinung dazu!

Weiterführende Gedanken von Erhard Oeser, einem österrreichischen Philosophen

Oeser analysiert die unterschiedlichen Ausprägungen der Xenophobie und fragt sich, wann die Ablehnung des Fremden in Gewalt und den Wunsch zur Vernichtung umschlägt. Im Kontext unserer befremdlichen Helden Dracula oder Nosferatu müssten sich die Mechanismen erforschen lassen, wann ein Fremder nicht zur Bedrohung wird, was die Rückkehr zu einem friedlichen Miteinander ermöglicht, und wann die negativen Gefühle des Außenseiterseins beim Individuum selbst, durch Ablehnung in Aggression, in Hass umschlagen. Oeser versteht seine Auseinandersetzung mit dem Fremden als großes Plädoyer dafür, wieder miteinander zu sprechen, statt übereinander oder gegeneinander.

Schon Mary Shelleys Roman frankenstein-oder-der-moderne-prometheus setzte sich in der Urfassung von 1818 für Einfühlungsvermögen in die Seele des „Monsters“ ein. Eigentlich gutmütig, aber von allen Menschen gehasst und gejagt, wandelt es sich in seiner Einsamkeit, vom fremden unbegreiflichen Wesen zum Furcht einflössenden Mörder. Wann ist der Moment gekommen, wo uns das Fremde mehr ängstigt, als fasziniert? Im Hinblick auf Gentechnik und Klonversuche ein Beitrag, der zu weiteren Überlegungen, auch im Kontext des „Uncanny valley“ anregt.