Seit jeher ist bekannt, dass ein Bedürfnis des Menschen nach einem Rollenverhalten, das ihm Entlastung oder „Abreaktion“ gestattet, tief in seiner Natur verankert ist. Denken Sie bitte zum Beispiel an das kindliche Spielverhalten oder an Karneval oder auch an Vorformen des Theaters und schließlich auch an die Berufs- und Urlauberrolle, die wir alle zu bestimmten Anlässen einnehmen.
Jacob Levy Moreno wurde 1889 in Bukarest geboren und starb 1974 in New York. Er war Soziologe und der Begründer des Psychodramas, der Soziometrie und der Gruppenpsychotherapie. Ihm war wichtig, sich von der wort- und individuumsbezogenen Analyse von Freud abzuheben und anthropologische Konzeptionen hinzuzunehmen.
Dabei ging es ihm um wesentliche Merkmale des selbstverwirklichten Menschen, um Spontanietät, Kreativität und die Fähigkeit, mitmenschliche Begegnungen zu integrieren. Moreno erweiterte seine Ideen und entwickelte eine existentialistisch-kosmische Gedankenwelt, die in der utopisch anmutenden Phantasie einer kreativen Revolution gipfelte. Psychodrama nahm die Rolle einer „Welttherapie“ ein und sah die ganze menschliche Gesellschaft als den eigentlichen Patienten an.
Psychodrama wurde damit für viele Moreno-Schüler als unverzichtbarer Bestandteil ihres Wirkens anerkannt, obgleich diese Methode in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung eher auf Kritik stieß. Man sprach von einem „sektenhaften Zusammenschluss“, vom „Hang zum Esoterischen“ von „ideologischer Voreingenommenheit“.
Daraus entstanden letztlich eine Vielzahl von Verfahrensweisen. Unterschieden wurde im Hinblick auf die jeweilige Zielrichtung in personenzentriertes oder gruppenorientiertes und themenzentriertes Vorgehen, im Hinblick auf die zur Anwendung gelangenden Mittel, die sogenannten Psychodrama-Techniken wie zum Beispiel Monolog, Rollentausch, Spiegelbild oder Doppelgänger. Bekannt wurden zudem Begriffe wie „leerer Stuhl“, „Wunderladen“ oder auch Ausdrucksformen der Pantomime oder die Verwendung von Puppen und Masken. Orientierung in Hinblick auf die intendierten Prozesse lieferten diagnostische, analytische, kommunikative, katharische und psychagogische Orientierungen.
Moreno ist auch 2022 hoch aktuell. Gerade in der Situation der Krise, Entscheidung und Mut zur Veränderung, die ja auch zum Gegenstand unseres Sommersemesterseminars wird, suchen Menschen wieder nach neuen Orientierungen.
So stellt zum Beispiel die Zeitschrift für Psychodrama und Soziometrie die Frage, wie bestimmte Spannungen im Zusammenleben der Menschen, deren Auswirkungen die Corona-Krise deutlich sichtbar gemacht hat, angemessen zu bewältigen sind. Dargelegt wird unter anderem das Potential der Kreativität. Sie böte eine Möglichkeit, diesen Herausforderungen zu entsprechen, wenn ein Leben gelingen soll.
Skizziert wird dabei Morenos Kreativitätstheorie sowie eine Philosophie des Glücks. Es geht um einen psychodramatischen Blick, mit dem soziale Spannungen untersucht werden wie Freiheit und Solidarität, Liebe und Streit, Vernunft und Gefühl, Streben und Sollen. Das Ziel ist aufzuzeigen wie Psychodrama dazu beitragen kann, „kreatives Handeln zum würdevollen Umgang mit diesen Spannungen zu fördern in einer spätmodernen Gesellschaft.“