Du betrachtest gerade Lesung mit Wow-Effekt: Lida Turpeinen und die Stellersche Seekuh in „Das Wesen des Lebens“

Die Natur lädt immer wieder zum Staunen ein. Frühzeitliche Naturforscher beriefen sich auf die Ordnung der Gewohnheiten der Natur. Naturwunder bildeten die eigene ontologische Kategorie des Außernatürlichen, so kann man es im Buch von Katherine Park und Lorrain Daston „Wunder und die Ordnung der Natur“ nachlesen. Naturforscher und Philosophen wie Robert Boyle oder René Descartes rückten das Staunen und die Wunder der Natur in den Fokus ihrer Aufmerksamkeit. Passend zu diesem Themenbereich fand im Darmstädter Landesmuseum eine spannende Lesung statt. Die finnische Autorin Lida Turpeinen, geboren 1987, erzählt in ihrem Debutroman »Das Wesen des Lebens« von der ausgestorbenen Stellerschen Seekuh, von obsessiven Sammlern und rastlosen Wissenschaftlern, von begeisterten Naturschützern und den Frauen, die an Naturerforschungen immer schon beteiligt waren. Der Kulturbotschafter des UniWehrsEL schildert uns seine Eindrücke dazu – wie immer, herzlichen Dank!

Liebe UniWehrsEL-Leser,

im Oktober 2024 war ich zu einer außergewöhnlichen Lesung der finnischen Autorin Lida Turpeinen eingeladen. Schon der Ort der Einladung zur Lesung über das Buch „Das Wesen des Lebens“ ist äußerst ungewöhnlich. Die Lesung fand im Landesmuseum Darmstadt statt; und zwar öffnete das Museum seine Türen extra für die Literatin am Abend. Die Lesung fand im sehr beeindruckenden Empfangssaal des Museums statt. Doch anstatt gleich mit der Lesung zu beginnen, gab es zunächst eine kleine Besichtigungstour über das Wesen, welches der Inhalt des Buches ist: die Stellersche Seekuh.

Die bis zu sieben Meter lange Seekuh in der Zoologie auch Hydrodamalis gigas genannt, war ein friedlicher Seetang Fresser, so beschreibt das Tier der Zoologe Dr. Jörn Köhler beim Rundgang durch die zoologische Sammlung des Landesmuseums Darmstadt. Auf einer Forschungsexpedition 1751 unter der Leitung von Kapitän Vitus Bering – nach dem die Beringstraße benannt worden ist – entdeckt der Naturforscher und Arzt Georg Wilhelm Steller die gigantische Seekuh. Der kalte Nordpazifik ist ein Lebensraum für viele große Meeressäuger. Steller entdeckte auf der Beringinsel vier neue Arten: Riesenseekuh, Seelöwen, Seebären und Meerotter. Diese Tiere sind nach ihm benannt.

Die Lesung startet, vorgetragen von der Schauspielerin Karin Klein, mit folgender Beschreibung: Im Jahr 1751 auf der Halbinsel Kamtschatka in Russland; Kapitän Vitus Behring soll einen Weg nach Amerika finden. Zur Verfügung stehen ihm zur Lösung der Aufgabe: zwei Schiffe, hundert Männer und Proviant für viele Monate. An Bord ist auch der deutscher Forscher Steller. Er ist von sich selbst sehr überzeugt. Die Offiziere hören jedoch nicht auf ihn. Ein Schiff der Expedition verschwindet im Nebel, das andere strandet auf einer einsamen Insel. Die Männer haben Hunger, viele sterben an Skorbut. Dies zeigt die schrecklichen Bedingungen unter denen die Forschungsexpedition stattfand.

Nur Steller bleibt ruhig und widmet sich seiner Forschung. Er untersucht Pflanzen und Tiere. Er ist begeistert, als er ein großes Tier im flachen Wasser sieht. Christoph Kolumbus hat früher von Manatis, den Meerjungfrauen, gesprochen, aber lange hat sie niemand dokumentieren können. Meerjungfrauen? Gemeint ist aber die Entdeckung der Seekuh. Warum vergleicht Steller das Tier mit einer Meerjungfrau? Die Brüste der Seekühe sind rund, weil ihre Zitzen auf Brusthöhe unter den Vorderbeinen liegen. Ihr Körper ist groß und rund, der Kopf klein. Dies erinnert den Forscher an die kleine Meerjungfrau aus dem Märchen von Hans Christian Anderson. 

Die Expedition ist krachend gescheitert. Es gibt nur wenige Überlebende. Aber Steller stellt sich vor, wie er in den Kreisen seiner Forscherkollegen gefeiert wird: Denn die Seekuh wird seinen Namen tragen. Obwohl die Seekuh nah am Ufer ist, haben die Männer große Schwierigkeiten, sie zu jagen. Das Fleisch rettet die hungrigen Seeleute, und sie schaffen es zurück. Einer der Männer schreibt einen begeisterten Brief an die Heimat. Mit dem Fleisch der Seekühe könnte man ganz Sibirien satt bekommen. Der Hunger in der Region wäre vorbei. Steller trifft eine harte Entscheidung: Er muss sein wertvolles sieben Meter langes Skelett zurücklassen, um sein Leben zu retten. Ihm bleiben nur seine Aufzeichnungen.

Die Autorin Lida Turpeinen erzählt packend von der dramatischen Expedition: Stürme toben, Lebensgefahr lauert überall, doch die Leidenschaft für die Forschung von Steller und seinen Nachfolgern, Wissen zu sammeln, ist durch die Expedition erst angestachelt worden. 100 Jahre später forscht der Wissenschaftler von Nordmann in Helsinki fieberhaft nach der Seekuh, sowohl im Roman als auch in der Realität (auch interessant dazu die Buchbesprechung im NDR). Warum ist dieses Lebewesen spurlos verschwunden? Verschiedene Theorien kämpfen um die Wahrheit. Junge Forscher werfen von Nordmann vor, er sei zu weltgewandt und ignoriere die Erkenntnisse der finnischen Experten.

Von Nordmann braucht dringend ein Skelett, um das Rätsel des Verschwindens zu lösen. Schließlich erhält er es aus Alaska. Die Ureinwohner kennen einen geheimnisvollen Ort. Der Ort liegt genau an der Stelle, wo Pelzjäger die Otter ausgerottet haben. In der Folge haben sich Seeigel ausgebreitet. Die Seeigel fressen den Seekühen tonnenweise ihre wichtigste Nahrung, die Algen, weg. Die Seekühe müssen verhungern. Auf dem Meeresboden liegen ihre Knochen, stumme Zeugen einer verlorenen Welt. Diese Knochen sind der Durchbruch für von Nordmann!

Im zweiten Teil ihres Buches möchte die Autorin die Sicht von Frauen beschreiben. Turpeinen erzählt deshalb aus der Perspektive von Frauen, die nur im Hintergrund arbeiten durften. Ein Beispiel für so eine Frauenfigur ist die Zeichnerin Hilda Olson, die sich bisher auf Spinnen spezialisiert hat. Sie ist unglücklich verheiratet und sucht einen Sinn für ihr Leben. Sie ist eine ausgezeichnete Zeichnerin und darf dem Forscher von Nordmann helfen, wissenschaftliche Zeichnungen für ihn anzufertigen. Darunter ist auch die Seekuh.

Von Nordmann ist alt und kann die Zeichnungen nicht selbst anfertigen. Ihm fehlt die ruhige Hand. Sie wird seine Assistentin. Wie es zu der Zeit üblich war, wird Nordmanns Name genannt und der Beitrag von Hilda Olson wird verschwiegen, weil es zu der Zeit als unschicklich galt, dass sich Frauen mit wissenschaftlichen Themen beschäftigten.

Nach dem Erscheinen des Buches, welches viel Aufmerksamkeit in Finnland erregte, hat das Naturkundemuseum in Helsinki mittlerweile wissenschaftlichen Arbeiten, die bisher von Nordmann zugeschrieben wurden, nun der tatsächlichen Autorin Hilda Olson zugeordnet. Es wird in 2026 eine Sonderausstellung über Hilda Olsons Arbeit im Naturkundemuseum Helsinki geben. Diese soll den tatsächlichen Beitrag, den Hilda Olson an der Forschung hatte, nachträglich würdigen.

Das Exemplar der Seekuh im Naturkundemuseum in Helsinki musste, aufgrund des Erfolgs von „Das Wesen des Lebens“ mit einer stärkeren Plexiglasscheibe verstärkt werden, weil so viel Fans die Seekuh bewundern wollten. Die Museumsleitung hatte Angst, das Skelett der Seekuh in Helsinki könnte beschädigt werden, so berichtet es die finnische Autorin dem überraschten deutschen Simultanübersetzer.

Nach eigener Aussage hat die Autorin sieben Jahre an dem Buch gearbeitet, bis es erscheinen konnte. Turpeinen hat eine lebendige Sprache gefunden. Sie wechselt im Roman zwischen Fakten und Fiktion hin und her. Der Roman behandelt viele interessante Aspekte: Forscherehrgeiz, Habgier, Artensterben, Ureinwohner. Diese Geschichte einer friedlichen, unförmigen Seekuh wird spannend erzählt, und das Buch wird den Leser fesseln.

Die Lesung von Lida Turpeinen im Landesmuseum Darmstadt hinterließ einen bleibenden Eindruck. Der „Wow-Effekt“ entstand durch die einzigartige Kombination aus einem außergewöhnlichen Veranstaltungsort, einer beeindruckenden Besichtigungstour und der faszinierenden Geschichte der Stellerschen Seekuh. Diese Elemente schufen eine besondere Atmosphäre, die die Zuhörer in den Bann zog und die Lesung zu einem unvergesslichen Erlebnis machte.

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  • Beitrags-Kategorie:Blog
  • Beitrag zuletzt geändert am:7. November 2024
  • Lesedauer:9 min Lesezeit