In unserem Beitrag „Wer ist hier eigentlich das Opfer?“, zitierten wir die Wissenschaftler Uwe Steiner und Wim Peeters von der Uni Hagen, die das deutsche Wort „Opfer“ in seiner Doppelbedeutung als passives und aktives bestimmten. Nahid Ensafpour lieferte uns zu diesen Gedanken ein prominentes Beispiel von der Studentin Ahoo Daryae, die sich auf dem Uni Campus in Teheran entkleidete, um Widerstand gegen die iranische Kleiderordnung sowie den Kopftuchzwang zu leisten. Ahoo gilt genau wie die Iranerin Mahsa Amini, deren grausamer Tod um die ganze Welt ging, als Opfer, aber auch Ikone der iranischen Frauen, deren Mut gefeiert wird. In diesen Kontext passt der Film „Die Saat des heiligen Feigenbaums“, die zehnte Regiearbeit von Mohammad Rasoulof, erzählt die Geschichte einer Familie im Iran. Der Vater wird ausgerechnet dann zum Untersuchungsrichter am Revolutionsgericht befördert, als die Protestwelle um den Tod einer jungen Iranerin (Jina Mahsa Aminii) über das Land hereinbricht.

Der Film „Die Saat des heiligen Feigenbaums“ ist äußerst anspruchsvoll und zutiefst aufwühlend. Erlebt man doch die realitätsnahe Welt einer Familie, die durch das gesellschaftliche System geprägt wurde. Ihre beiden Töchter, denen die Grundlagen des menschlichen Zusammenseins wie Freiheit und Selbstbestimmung in ihrem Heimatland entzogen werden, beginnen ihre bisher vertraute Welt kritisch zu hinterfragen.
Kaum erträglich ist die Szene, in der eine Freundin der ältesten Tochter auf dem Weg zur Uni schwer verletzt wird. Obwohl die Mutter der beiden Mädchen diese Freundin nicht in ihrer Wohnung dulden will, hilft sie ihr, indem sie ihr die zahlreichen Schrotkugeln aus dem schwer verletzten Gesicht entfernt. Symbolisch und sehr dramatisch, das Klirren der entfernten Kugeln im Waschbecken, die mit dem Blut an den Händen der Mutter heruntergespült und vom Wasser „reingewaschen“ werden.
Aufrüttelnd der Zwiespalt eines zu tiefst berührenden Familienschicksals, in dem der Vater fast an seiner an ihn gestellten Aufgabe zerbricht, unhinterfragt Todesurteile ausstellen zu müssen. Beklemmend die Situation einer Mutter, die versucht, den heranwachsenden Töchtern die Chancen zu vermitteln, die die neue Stellung des Vaters für die Töchter in sich birgt – raus aus der Enge der kleinen Wohnung, endlich ein eigenes Zimmer für jede der beiden. Rührend die ‚Normalität‘ eines heranwachsenden jungen Mädchens, sich auch einmal die Fingernägel lackieren zu dürfen und die schwarzen Haare mit blauen Strähnchen einzufärben. Das verspricht ihr die Mutter, wenn sie sich jetzt so verhält, wie es für den Vater am besten ist. Das bedeutet, sich ruhig und unauffällig zu zeigen, in der Wohnung hinter geschlossenen Gardinen zu leben, den Mund zu Ungerechtigkeit zu halten. Denn die Mutter hält zunächst absolut am Vater und ihrer Liebe und Solidarität zu ihm fest. Ihr Zwiespalt zwischen dem großen Kummer, den ihre ältere Tochter erlebt, als ihre Freundin ohne eigenes Verschulden so schwer verletzt wird, und dem Wahren der Integrität des Vaters, überträgt sich im großartigen Spiel aller beteiligten Schauspieler.
Das erschütternde Familienschicksal rührt zu Tränen, verwirrt dennoch gleichzeitig durch den irritierenden weiteren Handlungsverlauf. Gerade die schüchterne, mehr an sich selbst als an den politischen Ereignissen um sich herum interessierte, jüngere Tochter dominiert letztlich die weitere Entwicklung des Dramas. Denn nun geht es darum, dass Vaters Pistole verschwunden ist und jedes Familienmitglied schwört, diese nicht genommen zu haben. Die Mutter hatte die Pistole des verzweifelten und verstörten Vaters, nach einem zärtlichen und aufbauenden gemeinsamen Pflegeritual im Badezimmer hinter verschlossener Tür, gefunden und im Schlafzimmer in der Kommodenschublade verwahrt. Das Schlafzimmer ist ein Tabu-Ort für die beiden Töchter.
Und doch muss es ein Wissen darum gegeben haben, wo die Pistole versteckt lag. Erst im finalen Showdown wird der Zuschauer eingeweiht, wer die Pistole letztlich genommen hat. Am Ende des Films offenbart sich dem Kinobesucher zwar das Geheimnis um das unerklärliche Versteckspiel der Waffe, die Interpretation des Motivs für das Entwenden bleibt ihm dennoch selbst überlassen. Klar wird, dass in dieser Familie, trotz scheinbarer bisher gezeigter Zärtlichkeit und Innigkeit der Schwestern, der sorgenden und besorgten Liebe der Mutter zu Kindern und Vater, weder Solidarität noch eine verlässliche Vertrauensbasis aufgebaut wurde. Dem Vater droht, durch den Verlust der Pistole selbst in die Fänge des iranischen Systems zu gelangen. Er, der täglich nicht nur mit ansehen muss, wie Menschen im Gefängnis misshandelt und gefoltert werden, sondern selbst die Urteile dazu fällt, wird nun selbst zum ‚Opfer‘ dieses Terrorregimes, verliert alles, wenn die Pistole nicht wieder auftaucht.
Der Film in Originalsprache, hervorragend gespielt und inszeniert beeindruckt mit großartigen Bildern, birgt Geheimnisse und und Metaphern, die schwer zu entschlüsseln sind, in ihrer Fremdheit für den westlichen Zuschauer. Der in das System involvierte Ehemann und Vater zeigt seine Verzweiflung zunächst durch nonverbale äußere Haltung, vor allem den Töchtern gegenüber, und zunehmende innere Verzweiflung, die letztlich in Aggression umschlägt. Ein Zweifler in einem Staat zwischen Traditionen und Aufbruch, dem die zunehmende Unsicherheit langsam bewusst wird und vor der ihm graut. In der hoffnungslosen Situation des Verlustes der Pistole – dem Symbol für Macht, Männlichkeit, Ansehen, Reputation, Stellung – wird auch sein sorgsam gewahrtes Selbstbild erschüttert. Wem kann er noch trauen? Den Töchtern, seiner Frau, dem Kollegen, der ihm rät, seine Familie zur „Inquisition“ zu bringen, um die ‚Wahrheit‘ herauszubringen, unter dem Deckmäntelchen, das sei doch nur eine „Therapiestunde“.

Die vagabundierende Angst überträgt sich auf den Zuschauer, verstärkt durch die erschreckenden Original-Handyaufnahmen während der Unruhen. Sie zeigen die Brisanz der Ereignisse in einem totalitären Staat und was mit den Menschen darin geschieht; im physischen und psychischen Sinne. Brutalität scheint das einzige Mittel der Machthaber, dieses Unrecht am Leben zu erhalten und damit die Menschen zu zerbrechen und zu Opfern werden zu lassen. Am Ende scheint es nur Verlierer zu geben.
Im Showdown dieses Films, der erlebt, nicht nur erzählt werden sollte, offenbart sich die Bedeutung des Titels. Denn dieser nimmt Bezug auf eine Feigenart, die sich ausbreitet, indem sie Bäume „umschlingt und schließlich erwürgt“. Er wird als ein Sinnbild für das theokratische Regime im Iran angesehen. Zurück bleibt die sich zeigende und erschreckende Polarität zwischen überwältigender Grausamkeit und betörender ästhetischer Schönheit in Bildern, die zutiefst anrührend und gleichzeitig verstörend erscheinen.
Danke für das Bild von Ben Kerckx auf Pixabay