Du betrachtest gerade Ibsens „Hedda Gabler“ am Staatstheater Darmstadt – die Lust an der Zerstörung

Henrik Ibsen ist sozusagen ein „Dauerbrenner“ im UniWehrsEL, denn er bietet zahlreiche Dankanstöße zu zeitgenössischen Themen. „Hedda Gabler“ (1890) von Henrik Ibsen handelt von einer Frau aus der Oberschicht, die sich in ihrer Rolle als Hausfrau und zukünftiger Mutter gefangen fühlt. Ihre Frustration macht sie zerstörerisch, was fatale Folgen für ihre Mitmenschen und für sie selbst hat. Während sich ein Leser besondere Gedanken zu Geschlechterrolle im Kontext von Ibsens „Hedda Gabler“ machte, betrachtet ein anderer UniWehrsEL-Leser das Schauspiel unter dem Aspekt des Staunens. Herzlichen Dank dafür!

Liebes UniWehrsEL,

Am 31.01. habe ich mir die Aufführung „Hedda Gabler“ am Staatstheater Darmstadt unter einem neuen Aspekt angesehen. „Hedda Gabler“ ist eine Figur, die immer wieder Anlass zum Staunen gibt. Ihre Handlungen und Motive sind so vielschichtig und widersprüchlich, dass sie das Publikum in einen Zustand des Nachdenkens und der Faszination versetzen. Was an ihrem Verhalten besonders erstaunt, ist die Art und Weise, wie sie ihre innere Unzufriedenheit und Langeweile in destruktive Energie umwandelt. Ihre Manipulationsfähigkeit und das Streben nach Kontrolle über ihr eigenes Schicksal und das ihrer Mitmenschen sind gleichzeitig beeindruckend und erschreckend.

Mit offenem Mund sah ich die Szene, in der Hedda das Manuskript von Eilert Løvborg verbrennt. Er ist nicht nur ein alter Bekannter Heddas, sondern auch ein geistreicher und inspirierender, wenn auch erfolgloser, Autor. Hedda und Eilert verbindet eine gemeinsame Vergangenheit. Diese zerstörerische Handlung, die ich zuvor als rein destruktiv wahrgenommen hatte, erschien mir in der Darmstädter Aufführung in einem neuen Licht. Die Intensität und die emotionale Tiefe, mit der die Schauspielerin Trixi Strobel Heddas innere Zerrissenheit darstellte, war beeindruckend. Es wurde deutlich, dass Heddas Zerstörungslust nicht nur der Bosheit entspringt, sondern auch aus einem tiefen Gefühl der Ohnmacht und des Gefangenseins in der eigenen Lebenssituation.

Nur weil sie leidenschaftliche Gefühle für ihn hegt, hat sie aus seiner Sichtweise heraus, das Manuskript des talentierten Konkurrenten Eilert vernichtet. Das macht den Vorgang ‚sexy‘ für ihn und zu einem kleinen ‚schmutzigen Geheimnis‘ zwischen ihm und Hedda. In Jorgens Augen steht die Zerstörung des Skripts für das Hinter-sich-lassen von alten Gewohnheiten. Die Hochzeitsreise von Hedda und Jorgen war sehr förmlich und steif. Mit der heimlichen Zerstörung hat Hedda, aus Jorgens Sicht, den Weg für Neues geebnet. Er sieht Heddas zerstörerische Seite als aufregend und verführerisch an. Die Zerstörung enthält also auch eine erotische Symbolik für Tesman. Er glaubt an ein neues Band zwischen Hedda und seiner Person.

Auch Richter Brack, der Hedda Freundschaft in einer Art ‚Dreiecksverhältnis‘ angeboten hat, deutet Heddas Tat als leidenschaftlichen Akt und hofft seinerseits von der erotischen Anziehung von Hedda als ihr Liebhaber zu profitieren.

In dem Drama „Hedda Gabler“ wird die Zerstörung nicht nur als physischer Akt, sondern auch als tiefgreifende emotionale und psychologische Handlung dargestellt. Hedda Gabler zerstört das Manuskript von Eilert Løvborg, was Thea Elvsted mit der Ermordung eines Kindes vergleicht. Diese Aussage unterstreicht die Schwere und Grausamkeit von Heddas Tat. Das Manuskript ist das Ergebnis von Eilerts und Theas gemeinsamer Arbeit, ein „Kind“, das sie gemeinsam geschaffen haben. Indem Hedda es zerstört, vernichtet sie nicht nur ein physisches Objekt, sondern auch die Hoffnungen, Träume und die kreative Verbindung zwischen Eilert und Thea. Für Eilert bedeutet der Verlust des Manuskripts den Verlust seines intellektuellen Erbes und seiner Zukunft. Diese Zerstörung trifft ihn tief und trägt zu seinem späteren Tod bei. Thea, die viel Zeit und Emotionen in die Arbeit und in Eilert investiert hat, erlebt den Verlust als persönliche Katastrophe.

Heddas Handlung zerstört Theas Vertrauen in Eilerts Schaffenskraft. Deshalb ist Thea begeistert als Jorgen Tesman versucht, das Skript in akribischer Kleinstarbeit zu rekonstruieren. Für Hedda ist das Skript nur ein Buch, aber auch die Verbindung zwischen Thea und ihrem Exliebhaber Eilert. Aus Sicht von Hedda hat sie Eilert aus der Gefangenschaft von der langweiligen Thea befreit.

Thea und Hedda sind zwei gegensätzliche Charaktere, die in Henrik Ibsens Drama aufeinandertreffen und durch ihre unterschiedlichen Eigenschaften und Lebensansichten faszinieren. Thea zeichnet sich durch ihre Gewissenhaftigkeit und Führsorge für andere Menschen aus. Sie ist engagiert, emotional und bereit, Risiken einzugehen, um das zu schützen, was ihr wichtig ist. Ihre Hingabe an Eilert Løvborg und ihre Unterstützung bei seiner Arbeit zeigen ihre Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen und für andere zu sorgen. Thea ist eine Figur, die auf Harmonie und Stabilität bedacht ist und ihre Entscheidungen mit Bedacht trifft.

Hedda hingegen verkörpert das Gegenteil. Sie ist impulsiv, manipulativ und oft von Langeweile und Unzufriedenheit getrieben. Hedda sucht nach Macht und Kontrolle, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen ihrer Handlungen. Ihre destruktiven Entscheidungen und ihr Bedürfnis, andere zu beeinflussen und zu manipulieren, stehen im krassen Gegensatz zu Theas verantwortungsbewusstem Verhalten.

Gefangen in einem monotonen und unbefriedigenden Leben, sucht Hedda nach Aufregung und einem Ausbruch aus der Routine. Die Zerstörung des Manuskripts ist ein Akt der Rebellion gegen die gesellschaftlichen Erwartungen und ihre eigene Unzufriedenheit. Eine spannende, eindrucksvolle Interpretation der Zerstörungsszene in der Darmstädter Aufführung von „Hedda Gabler“ entfaltet sich vor den Blicken des Publikums: In einem rituellen Akt wird das Manuskript nicht einfach verbrannt oder zerrissen, sondern in einer symbolträchtigen Choreographie zerstört: Der Ritus beginnt, als Hedda das Manuskript in die Hände nimmt. Mit einem kalten Lächeln zerreißt sie die Seiten, während die Bühne in gedämpftem Licht getaucht ist, das die Spannung im Raum greifbar macht. Doch damit nicht genug – die Schauspielerin Trixi Strobel beginnt, die Papierstücke zu essen, als wolle sie die Essenz von Eilerts Werk in sich aufnehmen und gleichzeitig auslöschen.

Der Akt des Zerstückelns geht weiter, als die übrigen Seiten in kleine Fetzen gerissen und in einen Eimer gestreut werden. Diese Fragmente werden schließlich als Blumendünger verwendet, was die Zuschauer in erstaunte Stille versetzt. Der symbolische Akt zeigt, wie aus der Zerstörung neues Leben entstehen kann, und führt zu einer tiefen Reflexion über den Kreislauf von Tod und Wiedergeburt.

Vielleicht haben Sie Ibsens „Hedda Gabler“ auch schon einmal gesehen. Bitte kommentieren Sie den Artikel aus Ihrer Sichtweise!

Herzlichen Dank für den spannenden Artikel und das Image by 愚木混株 Cdd20 from Pixabay

  • Beitrags-Kategorie:Blog
  • Beitrag zuletzt geändert am:10. Februar 2025
  • Lesedauer:7 min Lesezeit