You are currently viewing Denkanstöße durch Henrik Ibsen – ein Leserbrief

Im UniWehrsEL taucht unter den Suchbegriffen „Tabus brechen“, „Ich liebe das Schweigen“ und „Langeweile“ ein Name auf: Henrik Ibsen. Ob „Nora“, „Gespenster“ oder „Hedda Gabler“, seine Stücke reizen zu weiterführenden Überlegungen zeitgenössiger Themen. Sei es zu Geschlechterrollen bei Hedda oder Statusaufwertung durch Heirat, aber auch zu Profitgier und verfehltem Leben bei “Borkman” bietet er spannende Denkanstöße. Dazu ein Leserbrief mit großem Dank!

Liebes UniWehrsEL,

ich habe mir einmal Gedanken zu Geschlechterrollen bei „Hedda Gabler“ von Ibsen gemacht. Der Anlass war die Aufführung von den Hamburger Kammerspielen, die man immer einmal wieder bei Gastspielen erleben kann. So auch im Jahr 2024. Hedda Gabler wurde am 31. 01. 1891 am königlichen Residenztheater zu München uraufgeführt. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Ibsen bereits einen schriftstellerischen Namen gemacht. „Nora“ war 1879 bereits zum Skandal geworden.

Hedda Gabler ist Ibsens letztes Werk, indem eine Frau die Hauptrolle spielt. Ibsen gehörte zum Dunstkreis der „Kristiania-Bohème“  zu dem auch z.B. der Maler Edward Munch gehörte. Über „Kristiania-Boheme“ schreibt der norwegische Autor Hans Henrik Jaeger in seinem Werk über die „unvernünftige Gesellschaftsordnung“ und kassiert 60 Tage Gefängnis und eine Geldstrafe. Nachlesen konnte man 2019 in der „Neue Züricher Zeitung“ über ein Freskogemälde im Grand Café in Oslo welches das „drangvolle Innere des Cafés am Ende des 19. Jahrhunderts“ zeigt.  

„Bedeutende Bürger und Künstler des damaligen Kristiania sind darauf zu sehen. Edvard Munch sitzt mit dem stadtbekannten Provokateur Hans Jaeger an einem Tisch, links trippelt Henrik Ibsen durch die Tür, und der Maler des Bildes, Per Krohg, hat auch seine Eltern abgebildet, die ebenfalls beide Maler waren, den Vater Christian und die Mutter Oda Krohg, die «wahre Prinzessin der Bohème». Damals erlebten Kunst und Literatur in dem skandinavischen Land ihre erste Blütezeit. Der Maler Edvard Munch, die Schriftsteller Henrik Ibsen und Knut Hamsun: bis heute grosse Namen. Die Kristiania-Bohème (über die besagter Hans Jaeger einen Skandalroman schrieb, der schon 1902 ins Deutsche übersetzt wurde) spielte dabei die avantgardistische Rolle. 1889 gab sie sich neun Gebote, nach denen man zu leben hatte. Das allererste lautete: «Du sollst dein Leben schreiben.»“

Edvard Munch ist ein gutes Stichwort für die Inszenierung der Hedda Gabler von Kai Wessel. Der angedeutete Raum wird von einem düsteren Gemälde dominiert, welches von Munch stammen könnte. Es ist trostlos. Der Betrachter kann gut verstehen, warum Hedda nicht in dieser Villa auf Dauer leben will. Hedda ist selbstbestimmt. Sie nimmt trotz Hochzeit mit Jörgen Tesman dessen Nachnamen nicht an, sondern bleibt Hedda Gabler. Der Name Gabler steht für einen alten General. Der Vater ist verarmter Adel. Er hinterlässt Hedda, seiner Tochter, kein Vermögen, sondern nur seine Pistolen und Schulden. Tesman ist der einige Mann der bereit ist, Hedda zu heiraten.

Für Tesman ist Hedda der vermeintliche Aufstieg aus der Mittelschicht in die Oberschicht. Für Hedda hat Tesman sich total verschuldet, um ihr das Anwesen anzubieten. Sie soll standesgemäß wohnen, so Tesmans Vorstellung. Der Wohlstand wird sich schon einstellen, wenn Tesmann Professor wird. Doch da taucht ein unerwartetes Hindernis auf. Eilert Lövborg. Ein Trinker und selbstzerstörerischer Charakter. Doch auf einmal veröffentlicht er ein neues herausragendes Buch. Wird Lövborg zum Konkurrenten für Tesman?

Lövborg war einst ein Liebhaber von Hedda. Nun ist er vernünftig, abstinent und arbeitsam. Sein plötzlicher Erfolg stammt durch seine neue Beziehung zu Thea Elvsted. Sie motiviert ihn, sein Leben anders auszurichten. Hedda findet jedoch Gefallen daran, Macht über Lövborn wiederzugewinnen. Hedda zerstört Lövborgs neustes Manuskript. Es macht Hedda Spaß. Sie drängt sich zwischen Thea und Eilert. Das Manuskript ist das ungeborene Kind der Beiden.

Frauen hatten zu der Zeit des Stücks keinen Einfluss auf Staatsangelegenheiten. Sie konnten weder Kanzlerin noch Ministerin werden. Hedda hat keine Aufgabe. Die Aufgabe, die für Hedda möglich wäre, ist Hausfrau und Mutter zu werden. Das reizt Hedda aber nicht. Sie kann nur im Privaten Einfluss nehmen. Ihre Rolle ist nur auf den Haushalt beschränkt. Sie kann nicht mit den Männern Eilert, Tesmann oder dem Richter Brack mitgehen, auf deren Abenteuer durch die Stadt. Sie kann nur warten. Darauf warten, was Eilert tut. Bringt er sich um? Hedda gibt ihm die Pistole mit in der Hoffnung, er schreite zur Tat. Er täte etwas Mutiges. Doch er entfacht einen Skandal im Bordell. 

Zu der Zeit des 19. Jahrhunderts konnte es der Mann durch Fleiß und Mühe zu etwas bringen. Dies strebt Tesman an. Durch Fleiß und Mühe zu einer Professur. Anders die Rolle der Frau. Im Zuge der Industrialisierung wurde das Erwerbs- und das Privatleben räumlich getrennt. Der Mann hatte nun für den Broterwerb zu sorgen. Die Frau konzentrierte sich auf das Familienleben. Sie kümmert sich um die Kinder, den Haushalt, den Ehemann, wenn der abends müde von der Arbeit kam.

Der interessante Gedanke an der Figur Hedda ist, dass sie diese vorgeschriebene Rolle nicht einnehmen möchte, sondern ihre Unabhängigkeit bewahren will. Sie tut dies, indem sie nicht in die Mutterrolle schlüpft und Tesman auch nicht den Haushalt führt. Für die Villa ist Hedda nicht geeignet. Was will sie den ganzen Tag machen. Sie zeigt männliches Verhalten. Sie schießt wie der General mit Pistolen. Tesman findet dieses Verhalten albern. Der Richter Brack versucht, sie auch an ihre Rolle zu erinnern. Da Hedda aber aus der Oberschicht stammt, will sie sich nicht in die Rolle fügen. Dies führt zu dem Ergebnis, dass sie gegen Brack, Tesmann und Lövborg auf ihre Weise rebelliert.

Übrigens erhielt unter der Regie von Kai Wessel Teresa Weißbach, welche die Hedda Gabler spielt, den Theaterpreis Hamburg 2023.

Und dann war da noch etwas …

Da Ibsen ein Dauerbrenner am Theater ist und das UniWehrsEL bereits Nora, Gespenster und Hedda Gabler besprochen hat, wie wäre es mit „John Gabriel Borkmann“. Geschrieben 1896 in Kristiania, dem oben bereits erwähnten heutigen Oslo, beschäftigte sich Ibsen mit einem realen Vorfall, der die Gesellschaft bewegte. Es ging dabei um einen namhaften Offizier aus Kristiania, der wegen Betruges zu vier Jahren Gefängnishaft und Strafarbeit verurteilt worden war. Nach der Haft war der Offizier psychisch verändert und isolierte sich komplett von seiner Frau und der Außenwelt.

In einer Aufführung am Theater Meiningen in 2021 geht es um einen Banker, der das Geld seiner Kunden veruntreut hat und deshalb aus seiner Gesellschaftsschicht geflogen ist. Seine große Liebe ist nicht etwa seine Frau, die hat er wegen der gesellschaftlichen Stellung geheiratet. So gesehen ist Borkmann ein Typ wie die oben beschriebene Hedda Gabler. Sie hat auch die Ehe wegen des sozialen Status vollzogen. Hedda hat Angst wegen eines Skandals aus der Gesellschaft zu fliegen.

Borkman lebt fortan getrennt und doch zusammen im Haus der Schwägerin Ella, die sterbenskrank ist. Borkman hat sie einst geliebt, aber für seine Karriere geopfert.  Ella will Erhard, den Sohn der Borkmans, da sie ihn einst aufgezogen hatte. Doch ihre Schwester Gunhild und Borkman setzen jeder beim Neubeginn auf diesen Sohn – als Erlöser, als Rächer, als Hoffnungsträger; der aber verweigert sich.

Das Stück wurde besonders zur Bankenkrise 2009 wiederentdeckt und häufiger gespielt. So bekannt wie Nora und das Puppenhaus ist es sicherlich nicht. Borkmann ist ein anderer Held als der „Volksfeind“, wo der Konflikt zwischen einem Badearzt und den Honoratioren einer Stadt im Mittelpunkt steht. Der Badearzt verspielt seinen Ruf wegen der Erkenntnis und Bekanntgabe, das Wasser sei verseucht. Also aus selbstlosen Motiven für die Gesellschaft. Anders Borkmann, der mit größeren Spekulationen noch mehr Profit für die eigene Bank rausholen wollte.

  • Beitrags-Kategorie:Blog
  • Beitrag zuletzt geändert am:26. März 2024
  • Lesedauer:9 min Lesezeit