Die politischen Entwicklungen unserer bewegten Zeit laden dazu ein, über das Thema der Freiheit nachzudenken. So gehört auch der Intendant des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden und der Maifestspiele 2023, Uwe Eric Laufenberg, zu denen, welchen Pressefreiheit und das freie Wort an sich und daraus folgernd, ein selbstbestimmtes sinnvolles Leben als ein Hauptthema dieser Festspiele am Herzen liegen. Zu dieser Zielsetzung passen die beiden Spätwerke des tschechischen Komponisten Leos Janáček, „Die Sache Makropulos“ und „Aus einem Totenhaus“.
Der Kulturbotschafter des UniWehrsEL war vor Ort und hat uns dankenswerter Weise zu weiterführenden Überlegungen angeregt.
Liebe UniWehrsEL-Leser,
hinter dem sperrigen Titel „Die Sache Makropulos“ verbirgt sich ein ‚Elixier‘. Bekanntlich werden in Opern den Figuren unterschiedlichste Elixiere angeboten. Tristan und Isolde naschen am Liebestrank. Hänsel und Gretel an Lebkuchen, die Lady Macbeth von Mzensk vergiftet ihren Schwiegervater. Bei der Sache Makropulos ist es ein lebensverlängerndes Elixier, welches tatsächlich wirkt; im Gegensatz zum Liebestrank von Donizetti, der nur eine Täuschung ist und in Wirklichkeit eine Flasche Rotwein enthält. Trotzdem wirkt der Liebestrank bei Nemorino indem er seine Zurückhaltung ablegt und seine Herzensdame nicht mehr mit Jammern von sich überzeugen will, sondern mit Selbstbewusstsein. Denn wer das Elixier besitzt, der hat einen psychologischen Vorteil. Schließlich könnte er alle Damen des Ortes bezirzen. Nemorinos Status wird also durch den Liebestrank erhöht: vom Trottel zum selbstbewussten Macher.
Bei der Sache Makropulos wurde die 16jährige Tochter eines Zaubertrankmischers zum unfreiwilligen Versuchskaninchen. Ihr Vater flößte ihr den Trank wie bei Obelix ein, und sie fiel in Ohnmacht. Danach wurde sie nahezu unsterblich. Elina Makropulos lebt seit 337 Jahren. Das wirft die Frage auf, was fängt ein Mensch mit so viel Lebenszeit an?
„Die Sache Makropulos“, so der Deutschlandfunk 2016 „ ist also das geheime Rezept für dieses Lebenselixier, das der uralten Tochter des Leibarztes, die äußerlich immer noch jung und schön ist, letztlich kein Glück bringt. Nur die Erkenntnis, dass alles Leben endlich ist, kann den Menschen glücklich machen.“ Leoš Janáček schrieb diese Oper wenige Jahre vor seinem Tod und teilte seiner um viele Jahre jüngeren Geliebten genau das mit: „Wir sind glücklich, weil wir wissen, dass unser Leben nicht lange dauert.“
Worum geht es? Als 1827 einer von Elina Makropulos Liebhabern stirbt, geht das Erbe an seinen Cousin, ein langer Erbschaftsprozess beginnt. Eine geheimnisvolle Sängerin namens Emilia Marty verweist schließlich auf ein bislang unbekanntes Testament, das zur Klärung beitragen soll, Emilia Marty interessiert sich jedoch in erster Linie für ein griechisches Dokument, das dem Testament beiliegt…
Bei Emilia Marty ist die Frage nach den Lebensträumen leicht zu beantworten. Lebt sie doch den Traum des Erfolgs. Sie ist reich und schön. Emilia Marty ist eine berühmte Sängerin, die von ihrem Publikum bewundert wird. Daran, dass Emilia Marty sich als eine ‚Künstlerin‘ sieht, erkennt der Zuschauer, dass der Stoff aus dem 19. Jahrhundert stammt und nicht aus den heutigen Zeiten. Zwar werden auch heute noch Sängerinnen bewundert, aber sie nennen sich heute ‚Influencer‘. Was heißt das? Sie beeinflussen andere Leute, die ihnen auf sozialen Plattformen folgen. Das geht weit über die Reichweite einer Sängerin auf einer (Theater-)Bühne hinaus.
In die Bayerische Staatsoper gehen rund 2.200 Menschen rein, in ein Fußballstadion mehrere 10.000 Leute. Auf sozialen Plattformen folgen Menschen Influencern in Millionen, nicht in tausendfacher Größe. Vermutlich wäre Emilia Marty bei ihrem Charisma heute jedoch eine Unternehmerin und wie ähnlich erfolgreich wie Jeff Bezos (Amazongründer) oder gleich dem schillernde Elon Musk (Tesla). Anders ausgedrückt, eine lange Lebensspanne wird dann zu einem reichen Leben, wenn neben der Lebenszeit auch ein hoher sozialer Status dazu kommt.
Nur solche Menschen mit hohem sozialem Status haben den Wunsch, länger zu leben. Also sich mit Hilfe einer Formel Jugend, Schönheit und Lebensverlängerung zu erträumen. Oder sehen Sie das anders?
Im Gegensatz zu diesen Menschen stehen die Gefangenen aus dem Totenhaus. In dieser Oper („Aus einem Totenhaus“ nach dem Roman „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus von F. M. Dostojewski) stehen die Menschen auf der untersten Stufe der sozialen Leiter. Das Leben der Gefangenen ist geprägt von sinnloser Arbeit und Zeit totzuschlagen. Ihr Wunsch ist die Erlösung. Das Symbol dafür, der Adler. Er steht für ein ruhiges Leben in Freiheit oder ein Lebensende in Frieden.
Und wiederum ganz in Kürze: Im zaristischen Straflager am Irtysch vergehen die Tage einer wie der andere, schlecht und unendlich lang. Die Häftlinge erwarten einen Neuzugang, es soll ein Adliger sein, der sich als politischer Gefangener bezeichnet und darum schikaniert wird. Die Gefangenen, die seine Schreie hören, sammeln sich um einen Käfig mit einem verwundeten Adler: Sie wollen wenigstens ihm die Freiheit schenken und holen ihn aus dem Käfig, aber der Adler kann nicht auffliegen. …
Doch nicht nur die Gefangenen aus dem Totenhaus sind lebensmüde. Auch Emilia Marty sehnt sich nach dem Tod. Sie ist zwar auf einem anderen Statuslevel. Aber ihr Leben ist für sie individuell ebenso eintönig geworden, wie für die Gefangenen. Sie ist der Bewunderung von Fans überdrüssig geworden. Ein Mann will sich für sie umbringen? Wie langweilig – das kennt sie schon. Es ruft nur ein Achselzucken hervor. Soll der Typ nur machen. Auch Reichtum kann zu Langeweile und Gefühlen der Sinnlosigkeit führen. Dies ist wohl der verbindende Gedanke, der das Staatstheater Wiesbaden dazu gebracht hat einen Doppelabend aus dem Totenhaus und der Sache Makropulos zu machen.
Emilia Marty ist innerlich schon lange tot. Das macht die Regie in einer Szene besonders deutlich. Sie schläft mit einem Erpresser, um an die Formel für das Lebenselixier zu kommen. Er äußert sich danach so, dass er meint, mit einer Leiche geschlafen zu haben. Er fühlt sich betrogen. Der erpresste Sex führt dann als Strafe noch zum Tod seines Sohns. Der hat die beiden beobachtet, ist eifersüchtig und begeht Selbstmord. Doch wie bereits erwähnt, Emilia Marty lässt das kalt. Was hat sie damit zu tun? Sterbliche Menschen sind so melodramatisch.
Dennoch zeigt der Einsatz von Emilia Marty, dass sie gerne die Formel zurückhaben will, dass sie trotz der genannten Langeweile weiterleben möchte. Anders als die Gefangen im Totenhaus, die sich freiwillig in Särge legen.
Bei Marty sieht der Zuschauer eine Uhr, die abläuft. Unheimliche Tänzer umgeben Emilia Marty. Sie zeigen, dass von ihr keine guten Gefühle ausgehen. Die Gestalten wollen sie holen. Sie erinnern an Totengräber, böse Geister. Die Gefangenen aus dem Totenhaus und Emilia Marty haben eines gemeinsam. Beide haben das Bedürfnis ihre Lebensgeschichte dem Publikum mitzuteilen, bevor sie sterben.
So bleibt am Ende die Frage, wie gestaltet jeder Einzelne für sich ein freies, lebenswertes Leben?