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Ein Theaterstück, das nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat und immer wieder neu erfunden wird, ist Fassbinders hochemotionales und autobiographisches Lehrstück der Einsamkeit „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“. Es wurde 1971 bei den vierten Experimentatheaterwochen im Frankfurter Theater am Turm unter der Regie von Peer Raben uraufgeführt. 1972 erschien der gleichnamige Film unter der Regie von Fassbinder. 2022 war die Adaption (Peter von Kant) von Regisseur François Ozon der Eröffnungsfilm der Berlinale.

Im Mainzer Staatstheater sah der Kulturbotschafter des UniWehrsEL das Stück um die Sehnsucht nach bedingungsloser Liebe, Obsession und den damit verbundenen Zwangsvorstellungen, die sich um das vermeintliche alleinige Recht an der geliebten Person drehen.  Eine „Studie in Dekadenz, gegenseitiger Abhängigkeit, Leidenschaft, Raserei und Verzweiflung, in seinem Hang zum Exzess vielleicht das am weitesten vorgetriebene, in der Gestaltung virtuoseste Melodram Fassbinders“ (Ulrich Gregor, Geschichte des Films ab 1960).

Herzlichen Dank für Beschreibung und Interpretation, lieber Kulturbotschafter! 

Liebes UniWehrsEL,

ich habe die Nachmittagsvorstellung von „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ mir am Schauspielhaus Mainz angeschaut. Das Stück wurde von Rainer Werner Fassbinder in den 1970er Jahren in Frankfurt am Main uraufgeführt. Die Story ist klassischer als gedacht. Normalerweise ist die klassische Liebesgeschichte: ein älter Mann, z.B. Don Giovanni, trifft auf ein junges Mädchen und verführt es. Mit seinem reiferen Alter und Intellekt ist der ältere Mann dem jungen Mädchen überlegen. Das führt langfristig zu Spannungen in der Beziehung. Der Mann besitzt in dieser Konstellation Macht und Status. Von diesem Status profitiert das Mädchen durch das Eingehen mit dem älteren Mann, indem er z.B. sie finanziell aushält. Fassbinder ersetzt nun die Figur des älteren Mannes mit Status und Erfolg durch eine Frau. Petra von Kant ist eine sehr erfolgreiche Modeschöpferin. Sie hat zwei Ehen bereits hinter sich. Ehemann Nr. 1 ist gestorben. Von Ehemann Nr. 2 hat sie sich frisch getrennt.

Sie lebt in einer angedeuteten Villa. Hinter einem Vorhang sieht der Zuschauer so etwas wie einen Pool. Sie trägt von ihr selbstentworfene Kleider. Als Frau mit Status besitzt sie eine persönliche Assistentin. Diese ist eine stumme Rolle. Ein seltsame Figur im Stück, nicht nur dass sie stumm bleibt, so verhält sie sich auch äußerst seltsam. Sie wandelt wie ein Geist über die Bühne, lässt sich von Kant beschimpfen. Kant ist keine nette Chefin, sondern übt ihre Macht herrisch aus. Sie ist launisch, sprunghaft. Fassbinder hat festgelegt, dass alle Rollen ausschließlich von Frauen besetzt werden. So sieht der Zuschauer sechs Schauspielerinnen auf der Bühne. Diese tragen Phantasie-Kleidung. Sie ist modisch, erinnert aber auch an Barockkleider. Die Frisuren werden regelmäßig mit Perücken gewechselt.

Petra Kant lebt in einer oberflächlichen Welt. Es gilt mehr der äußere Schein als innere Werte. So sind Lügen an der Tagesordnung. Petra von Kant ist oberflächlich und gibt sich abgeklärt. Von ihrer Kreativität sind abhängig: Marlene die Assistentin, Valerie von Kant die Mutter von Petra, sowie die Tochter Gabriele. Hinzu kommt noch eine Freundin, Sidonie. Petra verführt die junge Karin mit Champagner und süßen Worten. Sie scheint sich übermäßig für die 23jährige zu interessieren. Diese ist bereits (es sind die 1970er Jahre!) verheiratet mit einem Mann und hat die Erfahrung des Ehelebens hinter sich.

Karin ist auf der Suche nach sich selbst und einem angenehmeren Leben mit wenig Arbeit. Deshalb erscheint ihr der Beruf als Schönheit, Model und Muße für Petra durchaus am Anfang erstrebenswert. Champagner für fünfhundert Mark trinken und sich im Pool aalen ist ein leichteres Leben, als der Vater einem handwerklichen Beruf nachzugehen. Diesen hat er aufgrund seines Alters verloren. Während Karin eben aufgrund ihres Alters den Job als Model von Petra angeboten bekommt. Karin war keine gute Schülerin und hat sich in der Schule gelangweilt. Mit Bildung einen gesellschaftlichen Aufstieg zu schaffen, daran glaubt sie kein bisschen. Also warum sollte sie sich für die Schule anstrengen. Dann lieber in eine Ehe gehen. Soll der Mann sich anstrengen.

Ein Schicksalsschlag war, als der Vater seine Arbeitslosigkeit nicht ertragen hat und sich mit seiner Frau umgebracht hat. Er fühlte sich überflüssig und hat sich selbst entsorgt, nachdem er kein produktives Mitglied mehr in der Gesellschaft gewesen ist. Weil er seine Frau nicht mehr versorgen konnte, hat er sie kurzer Hand mitumgebracht. So hat er Karin den Start in ein neues Leben ohne Altlasten ermöglicht. Sie konnte sich in die Ehe stürzen. Doch auch diese bringt keine Unabhängigkeit, vor allem keinen Reichtum ein. Daher hat Karin ihre Mann verlassen bzw. einfach nur eine Beziehungspause eingelegt.

Dies alles erfährt der Zuschauer aus den Gesprächen zwischen Petra und Karin. Wobei Petra sich nicht wirklich für die Lebensgeschichte von Karin interessiert. Ihr gefällt der jugendliche Körper. Wie reagieren die anderen Personen auf Karin? Das erfährt der Zuschauer später. Zunächst haben Petra und Karin eine leidenschaftliche sexuelle Beziehung. Wobei Karin die “Unersättlichkeit” von Petra zu langweilen beginnt.

Petra wird grundlos eifersüchtig mal auf den abwesenden Ehemann, mal auf einen eingebildeten Fremden, der Karin auf einer imaginären Party sexuell befriedigt. Petra möchte Karin von sich abhängig halten. Es gibt aber keine gemeinsamen Interessen. Zwar possiert Karin für die Mode von Petra, hat aber keine gemeinsame Sprache mit ihr. Es folgen Vorwürfe von Petra, warum verlässt du deinen Mann nicht, du nutzt mich nur aus um dir einen Namen in der Branche zu machen, du liebst mich nicht. Karin antwortet darauf nicht. So verschwindet sie einfach und lässt Petra zurück.

Diese lässt ihre schlechte Laune wegen der Abwesenheit von Karin an ihrem Umfeld aus. Dies soll das Machtungleichgewicht zwischen den Figuren deutlich machen. Petra schikaniert Marlene mit sinnlosen Aufträgen und anschreien. Die vermeintliche Freundin Sidonie berichtet Petra haarklein, was Karin treibt, und ihr macht es Spaß Petra zu quälen. Sie lästert über Karin und das Modebusiness. Sie bestätigt Petras Selbstzweifel.

Petra suhlt sich in Selbstmitleid, glaubt nicht mehr arbeiten zu können. Dabei hat sie gerade wieder eine erfolgreiche Kollektion herausgebracht. Die Tochter Gabriele ist froh über die Trennung bzw. Abwesenheit von Karin. Sie sei so gewöhnlich. Dieser Ausspruch sorgt für einen Wutausbruch von Petra.

Die Mutter zeigt sich schockiert darüber, dass sich Petra der lesbischen Liebe widmet mit einem jungen Ding, will dies aber nicht bewerten als Petra andeutet, der Mutter den Geldhahn zuzudrehen. Petra sei schließlich erwachsen. Petra entlädt sich ausgerechnet an ihrem Geburtstag bei den ihr nahestehenden Menschen. Karin ruft nicht an um zu gratulieren. Das lässt Petra aus der Haut fahren.

Es sind Momente wie diese, die das Stück sehenswert machen. Denn Petra wird scharfzüngig und böse. Erinnert in diesen Momenten an Martha aus Wer hat Angst vor Virgina Woolf von Edward Albee aus 1962. Dort zankt ein Ehepaar mit gewaltigen Wortgefechten. Bei Fassbinder darf sich Petra einmal mit der Familie durchzanken. Dann die Erlösung, Karin ruft doch an, und Petras Zorn verraucht. Karin fragt, ob sie sich treffen sollen. Sie sei in der Gegend. Petra lehnt ab. Sie will aus dieser unglücklichen Liebe lernen, nicht mehr so besitzergreifend zu sein. Das scheint ein guter Vorsatz zu sein. Am Ende wiegt die Assistentin Petra in den Schaf. Sie will der Assistentin mehr bezahlen und sie künftig besser behandeln. Mit diesen Worten schläft Petra der Wüterrich sanft ein. 

Und hier meine Fragen zum Stück und zu guten Beziehungen im allgemeinen und im besonderen.

  • Ist Karin wirklich grausam zu Petra, wenn sie nicht alle Brücken zu ihrem vorherigen Leben mit ihrem Ehemann abbrechen will, um sich den Launen der Modeschöpferin ganz auszusetzen?
  • Will sie nicht als devote Sklavin von Petra enden wie die Assistentin?
  • Was macht eine gute Beziehung aus?

All diese Fragen wirft das Stück beim Zuschauer auf.

Danke für den Beitrag und Ihre potentiellen Kommentare darauf. Auch dank an Gerd Altmann für das Foto auf Pixabay.

  • Beitrags-Kategorie:Blog
  • Beitrag zuletzt geändert am:4. August 2023
  • Lesedauer:9 min Lesezeit