Eine geschlossene Gesellschaft, die in sich gelähmt zu sein scheint, dies kann bei „Der Würgeengel“ im Schauspiel Frankfurt in zweieinviertel Stunden, ohne Pause im warmen Parkett sitzend, am eigenen Leib nachvollzogen werden. Die Bühnenfassung zu Buñuels 1966 erschienenem Film mit gleichnamigem Titel zeigt ein Beispiel der Handlungsunfähigkeit einer zum Stillhalten erzogenen Menschengruppe und hält unserer Gesellschaft, symbolisch betrachtet, einen Spiegel vor.
Grundlage ist Luis Buñuels Film “Der Würgeengel”. Er dreht sich um Menschen, der sogenannten ‘Elite’, die nach einem gemeinsamen Opernbesuch zum Souper in eine Villa bei den Eheleuten Nobile eingeladen wurden und dort verharren, obwohl sie gehen könnten. Eine unsichtbare Grenze scheint sie einzuschließen, Wasser und Nahrung werden knapp, gesellschaftliche Normen fallen nach und nach weg.
Realismus und Surrealismus fließen perfekt ineinander in dem kuriosen Kammerspiel, das Drama, Satire und ‚Mysterie‘ vereint. Mit „Der Würgeengel“ inszenierte der mexikanische Filmemacher Luis Buñuel („Ein andalusischer Hund“) eine in sich geschlossene dekadente Gesellschaft, die in Sinnlosigkeit erstarrt zu sein scheint. Ganz ähnlich, wie er sie auch in „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“ zeigt. Da plant eine bürgerliche Gesellschaft ein stilvolles Essen, kommt aber wegen permanenter Zwischenfälle zu Allem, aber nicht zum Essen. Kritik gibt es aber seitens des berühmten Filmemachers nicht nur an dieser dekadenten Gesellschaft, sondern auch besonders im Würgeengel an der katholischen Kirche. Eine Hoffnung auf Erlösung durch den christlichen Glauben und einem Entkommen in eine Kirche, wie im Filmende, erweist sich leider auch als trügerisch.
Der Titel, der eigentlich Die Schiffbrüchigen von der Straße der Vorsehung“ lauten sollte, weckt Assoziationen zur Bibel und einem Engel, der zum Töten ausgesandt wurde. Als der Autor José Bergamín Buñuel von einem geplanten Stück mit dem Titel „El ángel exterminador“ (dt. „Der Würgeengel“) erzählte und sein Projekt dann doch aufgab, übernahm der Filmemacher den assoziationsstarken Titel für seinen Film. Eine Gesellschaft, die in ihrer Dekadenz verharrt, ist zum Untergang verurteilt, so könnte die Deutung lauten.
In der Neufassung von Peter Licht und SE Struck im Schauspiel Frankfurt stehen sowohl die bürgerliche Salongesellschaft als auch die kriegs- und klimamüde Grundstimmung, der letztlich auch durch die Corona-Krise traumatisierten Menschen der Gegenwart im Fokus. Gefangensein im Nichts-dagegen-Tun, Handlungsunfähigkeit im holzgetäfelten geschlossenen Wohnraum, Nichteingreifen-Können selbst beim Sterben eines Erkrankten und dem Selbstmord einer jungen Frau, die letztlich im Wandschrank entsorgt werden müssen. Ein Sterben im Verborgenen, auch als gesellschaftliche Lösung betrachtet, weil der Tod keinen eigenen Raum haben darf und der Platz und die Ressourcen für Alle sowieso begrenzt sind.
Die einzige aktiv Handelnde scheint die Haushälterin, die mit einer Axt bewaffnet ein Loch in die Holzwände schlägt, um zumindest für sprudelndes Wasser aus der Leitung zu sorgen, wenn schon die saisonalen Häppchen und der Champagner ausgegangen sind. Sie, die von den Herrschenden dominiert und ausgenutzt wird, hat vielleicht den wenigsten Grund, das Überleben der Herrscherklasse zu sichern.
Die Gesellschaft versucht nicht wie bei Buñuel eine Flucht in die Kirche, sondern endet, wieder zur Flucht unfähig, in einer sich auf sie niedersenkenden glühenden Spiralleuchtendecke, eine Anspielung auf eine schweißtreibende Sauna vielleicht; die Klimakatastrophe lässt grüßen. Auf jeden Fall ein Gefühl der Endzeitstimmung vermittelnd.
Untermalt wird das Horrorszenario – wirklich wunderbar die Schauspielerleistung, die unheimlich kräftezehrend erscheint – durch den Gesang eines Gastes namens „Johann“, ein Countertenor am Salonklavier. Seine barocken Melodien erklingen, stimmlich brilliant, wie etwa “Son nata a lagrimar” aus Händels “Giulio Cesare”, wirken aber in der Wiederholung, bewusst eingesetzt, enervierend.
Am Ende denkt der erschöpfte Zuschauer, dass es kaum noch schlimmer hätte kommen können. Der Applaus ist erleichternd tobend und belohnt das deutlich ebenfalls erschöpfte Ensemble, das wirklich alles gegeben hat. „Alles nur ein Albtraum?“, fragt man sich und strebt erleichtert dem Ausgang zu.