Das „Interdisziplinäre Gespräch“ zu „Fräulein Else“ fand in den Reihen der Studierenden an der U3L viel Beifall, nicht zuletzt, weil der Stoff in seiner Problematik heute aktueller zu sein scheint, denn je. So bringt der Deutschlandfunk einen Beitrag über „Fräulein Else“ und eine Inszenierung am Volkstheater Wien. In dieser Inszenierung von Leonie Böhm am 09. Januar 2025 rollen die Schauspielerin Julia Riedler und die Regisseurin Leonie Böhm den Me-Too-Aspekt in Arthur Schnitzlers Novelle neu auf. Ein Mädchen muss sich prostituieren, indem sie sich nackt einem Erwachsenen zeigt, weil die jüdischen Eltern, eh schon Außenseiter, einen Platz in der angesehenen Gesellschaft behalten wollen. Parallelen dazu im Film „ein unmoralisches Angebot“ mit Demi Moore und Robert Redford. Dem armen jüdischen Ehemann bietet ein Reicher eine Million Dollar für eine Nacht mit dessen Frau. Eine Leserin des UniWehrsEL regt dies zu der Frage an: Was hat „Fräulein Else“ dem Zuschauer 2025 noch zu sagen? Und wann ist ein Angebot „unmoralisch“?
Liebe Leser des UniWehrsEL,
im Film „ein unmoralisches Angebot“, verspricht ein Reicher (Robert Redford), der mit Geld alles kaufen zu können glaubt, einem armen Juden eine Million Dollar für eine Nacht mit dessen Frau (Demi Moore). Der Ehemann sollte das natürlich nicht annehmen, darf ein Mann doch seine Frau nicht prostituieren. Er muss für beider fehlerloses Leben einstehen. Die Frau hingegen darf, wenn sie es selbst möchte, und das möchte sie in diesem Fall. Sex ganz berechnend einzusetzen ist ein bekanntes Prinzip, nicht nur bei der „Besetzungscouch“ durch Filmbosse in Hollywood. Allerdings gibt es da noch die Me-Too-Debatte (vgl. Geschlechterforschung und Critical Sexualities Studies).
Nun stellen Sie sich lieber Leser vor, eine junge Frau, gerät vor 100 Jahren in die Fänge einer skrupellosen Gesellschaft, die verzweifelt um ihre letzte Ehre kämpft. Sie wird zum sexualisierten Opfer durch ihre eigene Familie, die unmoralisch handelt und einen reichen älteren Herrn, der eine Notlage ausnutzt. Arthur Schnitzlers Novelle „Fräulein Else“ entführt den Zuschauer in eine Welt, in der moralische Katastrophen und erbarmungsloser gesellschaftlicher Druck das Leben eines unschuldigen Mädchens dominieren.
Doch was kann der Zuschauer zu dieser erschütternden Geschichte heute, im Jahr 2025, sagen? Haben wir wirklich dazugelernt?
Else steht vor einem abgründigen moralischen Dilemma: Ihre Familie erwartet von ihr, dass sie ihre Prinzipien brutal opfert, um sie aus einer finanziellen Notlage zu retten. Diese Thematik ist universell und zeitlos. Auch heute stehen viele von uns vor schockierenden Entscheidungen, bei denen wir persönliche Werte gegen äußere Notwendigkeiten abwägen müssen. Dies geschieht in familiären, beruflichen oder gesellschaftlichen Kontexten, und oft bleibt die emotionale Belastung dieser Entscheidungen unerwähnt.
Die Gesellschaft, in der Else lebt, diktiert ihre Handlungen und Entscheidungen erbarmungslos. Auch in der heutigen Zeit sind soziale Medien und öffentliche Meinung mächtige, zerstörerische Kräfte, die das Individuum gnadenlos beeinflussen. Menschen sehen sich oft gezwungen, der Meinung anderer nachzugeben, obwohl ihr Innerstes rebelliert. Wie viel Macht räumen Menschen der Meinung anderer über ihr eigenes Leben ein? Diese Frage ist so aktuell und brisant wie nie zuvor.

Elses Schicksal ist ein bedrückendes Spiegelbild der Frau in einer patriarchalischen Gesellschaft. Trotz bedeutender Fortschritte in Richtung Gleichberechtigung im Jahr 2025 sind Themen wie Frauenrechte, Selbstbestimmung und Geschlechterrollen immer noch hochrelevant. Elses verzweifelter Kampf um Autonomie und Anerkennung erinnert den Zuschauer daran, dass das Tauziehen um Gleichberechtigung und Gerechtigkeit noch längst nicht vorbei ist. Die Me-Too-Bewegung hat gezeigt, dass Frauen auch heute noch gegen schockierenden Machtmissbrauch und sexuelle Ausbeutung kämpfen müssen. Die Me-Too-Bewegung ist eine soziale Bewegung, die auf sexuelle Belästigung und sexuelle Gewalt aufmerksam macht und Betroffenen eine Plattform bietet, um ihre Erfahrungen zu teilen. Der Begriff „Me Too“ wurde erstmals 2006 von der Aktivistin Tarana Burke geprägt, um Solidarität und Unterstützung für Betroffene zu zeigen. Else könnte eine Stimme dieser Bewegung sein, die die unüberhörbare, donnernde Forderung nach Respekt und Würde verkörpert.
Schnitzlers Novelle beleuchtet auch die qualvollen psychischen Belastungen, denen Else ausgesetzt ist. Diese Thematik ist heute aktueller denn je, da viele Menschen aufgrund sozialer, beruflicher und persönlicher Probleme unter enormem psychischem Druck und physischen Begleiterscheinungen leiden. Das Verständnis und die Sensibilisierung für psychische Gesundheit sind entscheidend, um eine unterstützende und mitfühlende Gesellschaft zu fördern. Else kämpft nicht nur gegen äußere Zwänge, sondern auch gegen ihre inneren Dämonen. Denn eigentlich hat sie Sehnsucht nach sexueller Erfüllung, aber mit wem und wann sie das haben kann, sollen weder Vater noch künftiger Ehemann entscheiden.
Kurz nach dem 100. Geburtstag der Novelle (1924) kommt „Fräulein Else“ nun auf die Theaterbühne. Doch wie bringt die Volksbühne Wien die innere Gefühlswelt von Else zum Ausdruck? Die Schauspielerin Riedel verkörpert Else mit einer eindringlichen Intensität, die die Zuschauer in ihren Bann zieht. Ihre Darstellung macht die schrecklichen Zustände und das menschliche Verhängnis von Else fühlbar. Mit großen Wutanfällen und hilflosen Gesten zeigt Riedel das ganze Ausmaß von Elses Verzweiflung. Ihre „Ich-bin-dagegen-Haltung“ verpufft, lässt die dramatische Lage von Else, zynisch gesehen, wie ein bloßes kindliches Aufbegehren erscheinen. Niemand um sie herum scheint ihre tiefe innere Erschütterung zu verstehen. Die Zuschauer erleben hautnah das furchtbare, große Gefühlschaos, in dem Else gefangen ist, und können, anders als die um sie handelnden Protagonisten, nicht anders, als tiefes Mitgefühl und Empathie für ihre qualvolle Situation zu empfinden.
Else gleicht einem getriebenen Tier im Käfig, gefangen in einem Netz aus gesellschaftlichen Erwartungen und familiärem Druck. Ihre Gefühlswelt ist ein ständiges Hin und Her zwischen Verzweiflung und Wut, Hoffnung und Resignation. Diese intensiven Emotionen macht Riedel durch ihre Darstellung fühlbar, wenn sie Elses dramatische Lage und die widerliche Aussicht auf Selbstaufgabe mit jeder Faser ihres Körpers vermittelt.

Und dann gibt es eine dramatische Wende im Theaterstück: Der Erpresser erkennt plötzlich seine Schandtat. Dieser Moment ist sehr seltsam, irgendwie ‚urkomisch‘, weil er so unrealistisch erscheint. Das Publikum lacht laut, weil die Szene so realitätsfremd wirkt, dass sie wie ein schlechter Scherz erscheint. Inmitten der eigentlich ernsten Lage gibt es also eine überraschende Erkenntnis des Täters, die die Spannung löst und dem Stück eine unerwartete Leichtigkeit verleiht. Mit diesem überraschenden Ende will die Regie den Zuschauern sagen, dass die Me-Too-Debatte doch Wirkung gezeigt hat. Es ist eine glückliche Fügung, dass keine Selbstaufgabe von Else verlangt wird, sondern sich eine Versöhnung anzubahnen scheint.
Doch sind das am Ende etwa nur leere Worte des potentiellen Täters? Hat er wirklich verstanden, was er bereit war, dem jungen Mädchen anzutun? Diese Frage bleibt kritisch zu hinterfragen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass „Fräulein Else“ im Jahr 2025 noch immer eine kraftvolle und hochbrisante Botschaft vermittelt. Die Novelle fordert uns dazu auf, über moralische Katastrophen, erbarmungslosen gesellschaftlichen Druck, erbitterten Feminismus und die psychischen Qualen nachzudenken, um aus Elses leidvollen Erfahrungen zu lernen. Ihr verzweifelter Schrei nach Gerechtigkeit und Selbstbestimmung hallt bis in unsere heutige Zeit. Es erinnert uns daran, dass Problematiken, die scheinbar der Vergangenheit angehören, oft aktueller sind, als wir je gedacht hätten.
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