„Nicht nur zur Weihnachtszeit“, lautet eine Erzählung von Heinrich Böll, die wir schon einmal im Kontext von einem Beitrag zu Böll, Loriot, Bergman aufgriffen. Es ging dabei um menschliche Vorlieben zu Extremen (bei Böll ‚Festwut‘ und auch im Juli singende Englein). Extreme laden zu weiterführenden Überlegungen und Kontroversen ein. Einmal etwas Überbordendes, Verbotenes zu tun, danach sehnt sich nicht zuletzt Schnitzlers „Fräulein Else“. („Interdisziplinäres Gespräch: Musik und Wahn und die Weiterführung „Reiz des Verbotenen“). In Else lässt sich trefflich hineinversetzen, empfindet sie doch nachvollziehbar eine faszinierende Anziehungskraft und zugleich Abscheu gegenüber der Vorstellung, die Grenzen von Scham und Anstand zu überschreiten. Und vor allem, wie bei Böll, gegen feste Regeln zu verstoßen. In der Literatur zeigt sich, dass die Verlockung, Verbote zu brechen, sowohl verführerisch als auch zerstörerisch sein kann. Ein UniWehrsEL-Lesender hat weitere theatralische Beispiele für den „Reiz des Verbotenen“ entdeckt und knüpft dabei wiederum an das Thema „Sehnsucht nach etwas Außergewöhnlichem“ an. Mit herzlichem Dank und dem Wunsch auf Erwiderung seitens der UniWehrsEL-Leserschaft!
Liebes UniWehrsEL,
Ein zweites Beispiel für den „Reiz des Verbotenen“ fällt mir zur Literatur August Strindbergs “Fräulein Julie“ ein. Es geht um Liebe jenseits der Standesgrenzen. Die Beziehung zwischen Julie und ihrem Diener Jean ist ein explosives Geflecht aus Macht und Verführung, das von Anfang an zum Scheitern verurteilt scheint. Julie, die ihrer adeligen Herkunft entfliehen möchte, wird von einer intensiven Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung getrieben. Jean hingegen sieht in der Affäre eine Gelegenheit, die sozialen Schranken zu überwinden und an Einfluss zu gewinnen.
Doch diese Beziehung ist geprägt von einem gefährlichen Spiel mit gesellschaftlichen Normen – ein ständiger „Tanz auf dem Vulkan“ (frei nach „Unter dem Vulkan von Malcolm Lowry), bei dem beide Figuren von ihren geheimen Begierden und dem Verlangen nach dem Verbotenen angetrieben werden. Besonders deutlich wird das Spiel mit dem Verbotenen, wenn es durch eine beeindruckende Schauspielleistung zum Leben erweckt wird. So werden sich die Zuschauer sicherlich noch an eine beeindruckende Aufführung des Renaissance-Theater Berlin zurückerinnern, welche quer durch Deutschland reist. Dominique Horwitz als verführerischer Jean und Judith Rosmair als leidenschaftliche Julie schaffen es, die knisternde Spannung und das heiße Begehren zwischen den Figuren greifbar zu machen. Ihre Darstellungen sind von einem sehnenden Verlangen geprägt, das die Zuschauer in seinen Bann zieht. Die Aufregung und Intensität ihrer Interaktion lässt die verbotene Beziehung in einem neuen, faszinierenden Licht erscheinen. Die Gefahr des Ertappt-werdens verleiht ihrer Affäre einen zusätzlichen Nervenkitzel und macht das Verbotene umso reizvoller.

Ein weiteres beachtenswertes Beispiel aus der Literatur ist Henrik Ibsens „Hedda Gabler„, die auch im UniWehrsEL vorgestellt wurde. Die Protagonistin Hedda ist von einer geheimen Lust und einem Verlangen getrieben, die Kontrolle über das Schicksal anderer auszuüben. Ihre Sehnsucht nach Macht und Einfluss führt sie dazu, den sensiblen Eilert Løvborg in den Tod zu treiben. In ihrem Tabubruch spiegelt sich die unmoralische Seite des Verbotenen wider. Hedda genießt die verbotene Spannung und die Gefahr, erwischt zu werden, was ihrer Existenz einen intensiven, wenn auch destruktiven Reiz verleiht. Der Grundton ihrer Befindlichkeit ist Langeweile und Unzufriedenheit (darum will vielleicht auch die besagte Dame bei Böll nicht nur zur Weihnachtszeit dieses Fest feiern!).
Allen diesen Protagonisten ist das Gefangensein in der Monotonie des Alltags gemeinsam. Wenn das Leben von Unlust, Leere und Stumpfsinn geprägt ist, führt dies in paradoxer Weise zu Gefühlen des Überdrusses; übrigens wunderbar dargestellt in Darmstadts „Hedda Gabler“ Inszenierung, in der sich die Schauspielerin Trixi Strobel eine Tüte über den Kopf zieht, um ihre Respektlosigkeit gegenüber ihrem langweiligen, bodenständigen Ehemann zu demonstrieren. Lasch, langweilig, unattraktiv, so wird nicht nur der Ehemann empfunden, sondern es zeigt sich ein Leben ohne Ekstasen und Leidenschaften. Biederkeit und Mangel an Leidenschaft, das sind die Merkmale dieses Lebens, ohne ausschweifende Festivitäten oder sonstige ekstatische Höhepunkte. Das wäre vielleicht dann auch das, was sich hinter dem Begriff ‚Festwut‘ verbirgt, denn auch ständig Weihnachten feiern zu wollen bedeutet Ausbruch aus der Alltäglichkeit.

Haben Sie nicht auch zuweilen Lust, etwas Verrücktes, Unberechenbares, Extremes spontan zu unternehmen? Einmal ein verführerisches Spiel zu wagen? Diese unerfüllte Sehnsucht und das Verlangen nach dem Unmöglichen machen den Reiz des Verbotenen doch aus! Ist es nicht die intensive Spannung und das verbotene Verlangen, das unsere Handlungen im Leben vorantreiben?
Der Reiz des Verbotenen übt eine unwiderstehliche Faszination auf uns aus, weil es die Grenzen der gemeinsamen gesellschaftlichen und moralischen Normen herausfordert. Es ist das Verlangen, das Unbekannte zu erkunden und das Verbotene zu erleben, das den Zuschauer oder den Leser in seinen Bann zieht. Die Geschichten von „Fräulein Julie“, „Hedda Gabler“, „Fräulein Else“ und Heines Gedicht „Ein Jüngling liebt ein Mädchen“ illustrieren diese Anziehungskraft.
In „Fräulein Julie“ wird die verbotene Beziehung zwischen unterschiedlichen sozialen Klassen zu einem mörderischen Spiel aus Macht und Verführung. „Hedda Gabler“ zeigt, wie der Mangel an Leidenschaft in einer konventionellen Ehe zu tödlichen Konsequenzen für eine dritte Person führen kann. „Fräulein Else“ illustriert die moralische Zerrissenheit, die durch die Versuchung des Verbotenen entsteht. In Heinrich Heines Gedicht geht es um den Reiz der unerfüllten Leidenschaft, ähnlich wie bei Hedda Gabler.
Letztlich zeigen auch Autoren wie Böll, Loriot und Bergman, mal ironisch, mal sarkastisch, mal melancholisch, dass der Reiz des Verbotenen tief verborgen in der menschlichen Psychologie liegt. Das Verbotene ist ein Abenteuer, welches den Menschen lockt. Wenn etwas verboten ist, wird es automatisch geheimnisvoller und aufregender. Es weckt die menschliche Neugier und den Drang, Grenzen zu überschreiten. Diese Spannung zwischen dem, was der Einzelne darf, und dem, was er nicht tun soll, ist ein starker Antrieb.
Kennen Sie auch Situationen, die in Ihnen den Reiz des Verbotenen wecken? Dann schreiben Sie es mir einmal auf, ich freue mich darauf!
Danke für Image by photosforyou from Pixabay