You are currently viewing Geschichten spannend erzählen

Manche Erzählungen haben auf mich eine besondere Wirkung, so auch die Romane von Wilhelm Genazino. Die Frage wäre dann, wie dieses außerordentliche Interesse an seiner Erzählweise zustande kommt. In unserem Seminar Storytelling – eine Einführung in die Erzählkunst im Sommersemester 2022 wollen wir diesem und vielen anderen Geheimnissen rund um die Psychologie des Erzählens auf die Spur kommen.

Bei Genazino sind das zunächst einmal seine Romanhelden. Ihnen gemeinsam ist das Leben als „Randseiter“ der Gesellschaft. Sie leben eher beobachtend und verdienen ihr Geld mit Gelegenheitsjobs. Ein Beispiel dazu ist Gerhard Warlich, der Romanheld von „Das Glück in glücksfernen Zeiten“. Warlich hat über Heidegger promoviert, arbeitet aber jetzt in einer Wäscherei als Lieferant. Seine Tätigkeit ermöglicht es ihm, sein Umfeld und die Mitmenschen genauer zu beobachten.

Genazinos Protagonisten haben einen besonderen Blick auf die Welt. Dieser Blick hat auch die Literaturwissenschaftlerin und Philosophin Esther Grundmann besonders fasziniert. So beschreibt Grundmann Genazinos Protagonisten:
„Sie nehmen Details ihrer Umgebung wahr, modifizieren sie, spinnen um sie herum eine kleine Geschichte oder setzen sie mit philosophischen Fragen in Beziehung, so dass sich der Romanheld in Das Glück in glücksfernen Zeiten einmal selbst fragt: ‚Bin ich ein Philosoph, ein Ästhet, ein stiller Kommunikator, ein Konzeptkünstler?‘“
(Genazino, 2011, S. 13 zitiert nach Esther Grundmann 2018, S. 231)

Grundmann interessiert die ästhetische und psychologische Wirkung der Genazino Romantexte auf die Leser:innen, wie beispielsweise die Erzeugung der Skurrilität und des Humors. Analog zu Grundmann fasziniert mich der Aspekt der suchenden Beobachtung der Protagonisten in Genazinos Texten: „Nach Art des Flaneurs schlendern sie durch die Straßen und sammeln Bilder und Beobachtungen, die sie auf ihrem Weg finden beziehungsweise erfinden. Sie ‚schneiden‘ aus der realen Welt Bilder ‚aus‘, deuten sie und gestalten sie um; sie entwickeln, Künstlern gleich, neue Welten“ (ebd. 2018, S. 232).

Das knüpft unmittelbar an unsere Spurensuche im „Projektlabor ÜberLebensKunst“ in der Stadt Frankfurt an. Im zweiten und dritten Semester begannen die Studierenden mit der Erprobung der gelernten Theorien in der Praxis. Das bedeutete für sie, sich alleine oder zu zweit als Flaneure und in einem „Nosing around“ (Herumbummeln, ‚Herumschnüffeln‘) auf Spurensuche zu begeben. Die eigenen Erfahrungen und Erinnerungen zur Stadt Frankfurt wurden mit dem „fremden Blick“ ergänzt und führten zu neuem Erleben einer sich wandelnden Stadt.

Um die besondere Wirkung der Erzählweise Genazinos zu verdeutlichen hier ein kurzer Ausschnitt aus „Das Glück in glücksfernen Zeiten“ (Leseprobe):

Auf dem Dach eines geparkten Autos entdecke ich ein angebissenes Stück Kuchen. Es steht dort in einer geöffneten Stanniol-Verpackung, die in der Abendsonne mild glitzert. Ich glaube nicht, daß das Kuchenstück dem Besitzer des abgestellten Wagens gehört. Dieser hätte den Kuchen ungestört im Auto sitzend verspeisen können. Sondern ich nehme an, daß ein Unbekannter den Kuchen während des Gehens aß und dabei plötzlich gestört wurde. Es muß eine erhebliche Störung gewesen sein, die den Esser zwang, den Kuchen auf dem erstbesten Autodach abzustellen und zu verschwinden. Deswegen denke ich, der Kuchenesser wird zu seinem Kuchen zurückkehren. Er hat sich irgendwo versteckt und wartet auf eine günstige Gelegenheit der Rückkehr.

Er kann es sich nicht erlauben, ein schönes halbes Stück Kuchen einfach so auf einem Autodach hinzuopfern. Jetzt nehme ich an, daß der Mann den Kuchen wahrscheinlich gestohlen hat, dann aber verfolgt wurde und während des gemütlichen Kuchenessens beinahe gestellt worden wäre. Ich setze mich auf eine halbhohe Mülltonnen-Einfassung, verberge mich hinter einem geparkten Lieferwagen und warte auf die Rückkehr des Kuchenessers. Ich muß dazu sagen, daß ich keinerlei Erfahrung mit mystischen Ereignissen habe. Ich habe im Laufe meines Beobachterlebens nur festgestellt, daß es quasi halb- außerirdische Vorgänge gibt, die mich gleichzeitig faszinieren, trösten und beruhigen. Ich muß nicht lange warten, dann löst sich meine spekulative Hoffnung ein.

Es kommt ein hitziger junger Mann den gegenüberliegenden Gehweg entlang, greift nach dem Kuchen auf dem Autodach und fängt an zu essen. Es macht dem Mann offenbar Freude, den Kuchen genau dort zu verzehren, wo er vermutlich als Dieb fast gestellt worden wäre. Von der Macht seines Bisses geht die Überzeugung aus, daß er dieses Stück Kuchen stets als sein Eigentum betrachtet hatte, insbesondere in den Augen- blicken der Verfolgung und Anfechtung. Von meinen Beobachtungen geht das von mir erwartete Glück aus. Ich könnte sogar zu dem Mann hinübergehen und ihm sagen: Ihr Stück Kuchen und mein Glück gehören zusammen. Das würde der Mann nicht verstehen, im Gegenteil, er würde sich vielleicht erneut verfolgt fühlen.

Die Beobachtung und die Fantasie, die sich um diese ranken, werden hier deutlich. Grundmann beschreibt, dass der Protagonist durch seine Beobachtung zu einem Glücksgefühl gelangt, seine Beobachtung fasziniert, tröstet und beruhigt ihn. In seiner Fantasie gibt es eine Person, die ein deutlich aufregenderes und spannenderes Leben führt, als er selbst. Durch die Identifikation mit dem Kuchendieb kann der Protagonist folgerichtig sagen: Ihr Stück Kuchen und mein Glück gehören zusammen“ (ebd. S. 234)

Genau dieses Phänomen macht für mich den Reiz eines gelungenen Geschichtenerzählens aus!

Esther Grundmann (2018): Ulrich Mosers Traumtheorie der psychischen Mikrowelten und die Dichtung von Wilhelm Genazino. In Wolfgang Berner et. al. (Hg.): Von Irma zu Amalie. Der Traum und seine psychoanalytische Bedeutung im Wandel der Zeit